Damit Menschen mit Behinderung trotz erhöhtem Unterstützungsbedarf im Alter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können, bieten einige Institutionen wie etwa die Stiftung Lebenshilfe im oberen Wynental (AG) ein modular aufgebautes AngebotI an. So können Menschen mit Behinderung auch im Alter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben.

Altern mit Behinderung zwischen Stuhl und Bank

20.05.2021
5 | 2021

Die Lebenserwartung in der Schweiz ist gestiegen, insbesondere für Menschen mit Behinderung. Die Zahl der Menschen mit Behinderung im AHV-Rentenalter wird sich in den nächsten zehn Jahren mehr als verdoppeln. Eine Herausforderung für die Versorgung.

In der Schweiz leben schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung, ein Drittel von ihnen sind über 65 Jahre alt, so das Bundesamt für Statistik. Betroffene, Angehörige, Institutionen, Fachstellen und -organisationen stellen daher zunehmend Fragen zu Zuständigkeit, Pflege und Hilfsmitteln sowie deren Finanzierung. Entsprechend dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes von 2004 sowie der internationalen Behindertenrechtskonvention, UNO-BRK, die hierzulande seit 2014 in Kraft ist, müssen kantonale und kommunale Alterskonzepte den individuellen Bedarf von Menschen mit Behinderung berücksichtigen. Dabei geht es nicht darum, Sonderrechte für diese einzufordern, sondern zu ermöglichen, dass Menschen mit Behinderung ihre Grundechte wahrnehmen können.

Zeit und Energie erforderlich

Zu ihnen gehört auch Michel Schütz. Der 56-Jährige lebt seit seiner Geburt mit Trisomie 21, ist hör-, seh- und mobilitätsbehindert und hat fast keine Sprache. Aufgrund seiner Behinderung altert er sehr stark vorzeitig. Dementsprechend ist dieses Thema für seine Schwester Marianne Schütz, die seit dem Tod der Eltern die Beistandschaft für ihren Bruder übernommen hat, bereits heute sehr präsent. «Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen sollten sich frühzeitig mit dem Übergang vom IV- ins AHV-Alter auseinandersetzen und sich von Fachstellen oder der Selbsthilfe beraten lassen», betont die 57-jährige Bernerin. «Es lohnt sich, den Bedarf an notwendigen Hilfsmitteln deutlich vor dem Erreichen des ordentlichen AHV-Alters abzuklären und diese bei der Invalidenversicherung zu beantragen, damit danach möglichst der Besitzstand gewahrt werden kann. Denn wem nicht bereits während des IV-Alters elektrische Hilfsmittel oder Hörgeräte zuerkannt wurden, der erhält hierzu später keinen oder bloss einen reduzierten Beitrag seitens der AHV», erklärt Marianne Schütz.

Nicht mehr behindert, sondern alt

Mit dem Erreichen des AHV-Rentenalters wechselt für Menschen mit Behinderung die Zuständigkeit von der IV zur AHV, obwohl ihre Behinderung natürlich weiterbesteht. Mehr noch, je nach deren Ausprägung beginnt der Alterungsprozess bei ihnen sogar früher, verläuft rascher und ist mit einem höheren Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen verbunden: Menschen mit einem Down-Syndrom etwa sind signifikant häufiger von demenziellen Erkrankungen betroffen. Hinzu kommt, dass der Verlust von vertrauten Personen und dem damit häufig verbundenen Unterstützungssystem für Menschen mit Behinderung im Alter eine besondere Belastung bedeutet. Dennoch werden ihnen IV-Leistungen wie Hilflosenentschädigung, Assistenzbeitrag und Hilfsmittel ab dem AHV-Rentenalter nur noch maximal im bisherigen Umfang gewährt. «Abgesehen davon, dass die Anspruchsbedingungen für diese Leistungen sowie deren finanzielle Höhe häufig zu eng bemessen sind», betont Rahel Jakovina, Projektleiterin bei Curaviva.

Auch die finanziellen Leistungen für Menschen mit Behinderung (FLB), ein von Pro Infirmis verwalteter Bundesfond, gelten nur bis zum Erreichen des AHV-Alters. Wer danach situationsbedingte Hilfeleistungen benötigt, etwa für einen Spezialschuh, Duschumbau oder Treppenlift, die weder durch private Mittel noch durch die Sozialversicherungen bezahlt werden können, hat die Möglichkeit, sich an Pro Senectute zu wenden, die im Auftrag des Bundes AHV-Gelder aus der Individuellen Finanzhilfe (IF) zur Verfügung stellt. Doch besteht bei der IF kein «Behindertenbonus». Viele Menschen mit Behinderung, die zuvor selbstständig gewohnt haben, sehen sich daher im AHV-Rentenalter aus Kostengründen gezwungen, in eine Institution einzutreten. Dies widerspricht jedoch der selbstbestimmten Lebensführung gemäss UNO-BRK, zu der auch ausreichend finanzielle Mittel sowie die Wahlmöglichkeit bei ambulanten, intermediären und stationären Angeboten gehören.

Diskriminierungsverbot

Zudem unterscheidet sich aktuell der Übergang ins AHV-Alter von Menschen mit Behinderung, die selbständig wohnen, von denjenigen, die bereits in einer Institution leben. Denn erstere haben bisher kein Anrecht, nach dem Erreichen des AHV-Rentenalters noch in eine Behinderteninstitution aufgenommen zu werden. Ein Verwaltungsgerichtsurteil des Kantons Basel Stadt im April 2020 stellte jedoch fest, dass eine solche Auslegung der kantonalen Gesetzgebung dem Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung widerspricht: Das heisst, wer bereits vor dem AHV-Alter eine IV-Rente bezogen hat, sollte auch danach noch Leistungen der Behindertenhilfe beantragen können. Damit ist dieses Urteil zum Präjudiz für ähnlich gelagerte Fälle in anderen Kantonen geworden. Der Kanton Aargau beispielsweise hat diese Regelung im Rahmen der Revision seines Betreuungsgesetztes bereits angepasst.

Bedarfsgerechte, ambulante Unterstützung

«Bei behinderten Menschen im AHV-Rentenalter zu sparen, ist zu kurz gedacht. Die Höhe der Entschädigung für behinderungsbedingte Mehraufwände sollte sich auch im Alter an dem sich verändernden, individuellen Unterstützungsbedarf ausrichten. Nur so können gesundheitliche Folgekosten vermieden werden», erklärt John Steggerda, Geschäftsleiter von Pro Infirmis Aargau und Solothurn. Um die Vorgaben der UNO-BRK umzusetzen und das Wachstum im stationären Bereich zu bremsen, gibt es zunehmend auch kantonale Finanzierunghilfen für ambulante Angebote respektive selbständiges Wohnen von Menschen mit Behinderung. Im neuen Betreuungsgesetz des Kantons Aargau etwa, das 2022 in Kraft tritt, sollen Menschen mit Behinderung, bei denen die Gefahr besteht, dass sie aus einem ambulanten Setting in eine Institution wechseln müssten, eine finanzielle Unterstützung durch den Kanton erhalten. Der Kanton Thurgau wiederum etwa ergänzt den Assistenzbeitrag der IV des Bundes (AB-IV) um ein kantonales Assistenzbudget (ABTG), dessen Zielgruppe und Leistungsumfang gegenüber dem AB-IV ausgeweitet wurde. Voraussetzung ist, dass das Leben zu Hause mit Assistenz einem Menschen mit Behinderung besser gerecht wird und nicht teurer als in einer Behinderteneinrichtung mit Leistungsvertrag ist. Zudem bietet das Sozialamt des Kantons TG – in Ergänzung zu den vom Bundesamt für Sozialversicherungen finanzierten Leitungen für «Begleitetes Wohnen» – die Übernahme einer Restfinanzierung an den Aufwänden der Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder von Pro Infirmis Thurgau & Schaffhausen an. «Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass für das Behindertenwesen der Kanton zuständig ist, für den Altersbereich vielfach aber die Gemeinden», so Steggerda.

Wohlen (BE) entlastet pflegende Angehörige

Aber auch auf kommunaler Ebene sind kleine Schritte möglich: Die Gemeinde Wohlen (BE) etwa bietet Menschen mit Beeinträchtigungen und Altersbeschwerden, die der untersten Einkommensklasse gemäss dem Tarif des Entlastungsdienstes Schweiz-Kanton Bern angehören, bis zu zehn verbilligte Betreuungsstunden pro Woche beim kantonalen Entlastungsdienst an. «Im Rahmen eines von der Gemeinde genehmigten Leistungsauftrages mit einem Budget von jährlich 40000 Franken sollen so betreuende und pflegende Angehörige entlastet werden», erzählt Stephan Stadler, Präsident des Seniorenvereins Wohlen.

Wichtig für die Angehörigen seien auch kurzfristig verfügbare, temporäre betreute Wohnangebote, erklärt Petra Kern, Leiterin Abteilung Sozialversicherungen Inclusion Handicap. «Zudem sollten ambulante und teilambulante Unterstützungsleistungen – wie etwa unabhängige Beratungsangebote, Tagesstätten, Treuhand-, Fahr-, Besuchs- und Mahlzeitendienste – die die Gemeinden häufig mitfinanzieren, den spezifischen Bedürfnissen von Seniorinnen und Senioren mit Behinderung Rechnung tragen.»

Durchlässige institutionelle Angebote

Damit Menschen mit Behinderung trotz erhöhtem Unterstützungsbedarf im Alter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können, bieten einige Institutionen wie etwa die Lh (Stiftung Lebenshilfe) im oberen Wynental, AG, ein modular aufgebautes Angebot von begleitetem Wohnen mittels Coaching, über betreutes Wohnen in Wohngruppen – inklusive Wohnen im Alter – bis hin zu Wohnen mit Intensivbetreuung an. «Auf diese Weise kann den individuellen Ressourcen der Bewohnerinnen und Bewohner und dem Wandel ihres spezifischen Unterstützungs- und Pflegebedarfs im Laufe des Lebens Rechnung getragen werden», erklärt Samuel Häberli, Leiter Bereich Lebensgestaltung von INSOS Schweiz. «Zugleich ist so das spezifische Fachwissen für die professionelle Begleitung und Unterstützung (Agogik) von Menschen mit kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung sichergestellt, was in einem Pflegeheim heute in der Regel nicht der Fall ist.» Da sich die kleinen Wohngruppen über die Standortgemeinden verteilen, können sich ihre Bewohnerinnen und Bewohner zudem leichter in die Quartiergemeinschaften integrieren. Andere individuelle Institutionen – wie etwa der Buechehof in Lostorf (SO) – bieten eine Wohngruppe für ältere Bewohnerinnen und Bewohner mit kognitiven Beeinträchtigungen an, so dass diese in den Betrieb und die Alltagsstruktur eingebunden bleiben. Die VESO Wohngemeinschaft Gutschick in Winterthur (ZH), wiederum hält für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung ab 55 Jahren zusätzlich eine Tagesstätte bereit, um einer möglichen Vereinsamung entgegenzuwirken. Manche Institutionen haben eigene Pflegegruppen mit entsprechendem medizinischem Personal eingerichtet oder pflegerische Massnahmen werden von einer externen oder eigenen Spitex übernommen. «Diese Institutionen stehen oft vor der Herausforderung, ob und wie sie ihre Pflegeleistungen über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abrechnen können, ohne dass Mehrkosten für die Bewohnerinnen und Bewohner entstehen», erläutert Rahel Jakovina, Projektleiterin Curaviva.

Jüngere mit Behinderung in Pflegeheimen

Behinderte Menschen mit sehr hohem Pflegebedarf müssen häufig bereits vor dem Erreichen des AHV-Rentenalters in ein Seniorenheim wechseln. Das Regionale Pflegezentrum Baden etwa hat daher eine Abteilung für jüngere Langzeitpflegebedürftige mit Beeinträchtigungen aufgebaut. Deren Bewohnerinnen und Bewohner erhalten ausser der professionellen Pflege in einer Tagesstruktur auch agogische Angebote. Für die Betreuung wird neben den pflegerischen Kompetenzen zusätzlich auf das Know-how von Sozialpädagoginnen und -pädagogen sowie Fachpersonen Betreuung gesetzt. Dieses Pilotprojekt wurde im Rahmen der Revision des Betreuungsgesetzes im Kanton Aargau gestartet. «Eine grosse Herausforderung war es, neben dem Abrechnungssystem für den pflegerischen Bereich die Finanzierung nach dem Betreuungsgesetz für den agogischen Bereich zu erarbeiten», betont Markus Simon, Leiter Betreuung des Pflegezentrums. «Spannend wird es, wie aus zwei unterschiedlichen Disziplinen beispielsweise Haltung, Zielsetzung, Zeitraster und Finanzierung zusammenwachsen.» Eventuell lassen sich Erkenntnisse aus diesem Projekt auf die Langzeitpflege übertragen, so dass auch Bewohnerinnen und Bewohner mit Behinderung im AHV-Rentenalter davon profitieren können. Denn bisher erhalten diese in Pflegeheimen – wie andere Seniorinnen und Senioren auch – nur im Rahmen der normalen Pflegefinanzierung Betreuungsleistungen.

Gleichstellung in allen Lebensbereichen

Gemeinden sind nah an der Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderung. «Sie sollten ein Netzwerk von relevanten Akteuren aufbauen und Synergien untereinander nutzen», betont Rahel Jakovina. Der Kanton Zürich hat daher 2020 einen Impulstag zur Umsetzung der UNO-BRK für alle Gemeinden durchgeführt und eine «Spurgruppe» eingesetzt, die diese dabei unterstützt. Zudem hat er seit April 2019 eine Koordinationsstelle für Behindertenrechte eingerichtet, die bei Fragen der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in jedem Lebensalter zwischen Amt, Kanton und Gemeinden vermittelt. Auch auf kommunaler Ebene gibt es bereits Initiativen: Um ortsbezogen die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu verbessern, hat etwa die Gemeinde Uster 2017 eine Sozialraumanalyse durchgeführt. Zu deren abgeleiteten Handlungsfeldern zählt beispielsweise der gleichberechtigte Zugang zu Informationen. Daher baut die Stadtverwaltung derzeit eine optisch und technisch barrierefreie Zusatzwebsite auf, die zudem Texte in einfacher Sprache anbietet. Hiervon profitieren nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Seniorinnen und Senioren sowie Menschen mit Migrationshintergrund. «Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung muss als Querschnittsaufgabe in allen Lebensbereichen mitgedacht werden. Dazu gehört beispielsweise auch ein Willkommensbrief der Gemeinde für Neuzuzüger in Institutionen und Heimen», kommentiert Marianne Schütz.