Die Urner Dörfer Bauen (im Bild, 162 Einwohner) und Seedorf (1860 Einwohner) pflegen seit Jahren enge Beziehungen, im Januar 2021 haben sie als erste Urner Gemeinden fusioniert. Bereits im Oktober 2020 wurde der Ortsverein Bauen gegründet. 

Anerkannte Ortsvereine stärken das Band mit der Gemeinde

18.06.2021
6 | 2021

Von Gemeinden anerkannte Ortsvereine sind offizielle Ansprechpartner der Behörden und ein geeignetes Instrument, um die Vielfalt einer Gemeinde als Stärke zu nutzen. Was unterscheidet sie von Quartiervereinen und Kommissionen? Ein Beitrag von Stephan Käppeli (HSLU).

Der unterschiedliche Charakter von Ortschaften innerhalb einer Gemeinde kann als Stärke genutzt werden. Beispielsweise wird es möglich, sowohl urbanes als auch ländliches Wohnen anzubieten. Eklatante Grös­senunterschiede der Ortschaften lassen die Bevölkerung kleinerer Gemeindeteile jedoch befürchten, über­stimmt oder gar vernachlässigt zu werden. Dies zeigt sich insbesondere auch in Gemeinden, die eine Fusion prüfen. Damit geht auch die Befürchtung einher, die Identität zu verlieren, und öfters wird festge­stellt, dass das Engagement der Bewoh­nenden abnimmt. Die potenzielle Stärke wird im Hinblick auf die Entwicklung der Gemeinde zu einer Schwäche. 

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob mit einfachen Ortsteilstrukturen und geringem Aufwand entsprechende Befürchtungen gemildert, den Be­wohnenden die Mitwirkung in Belangen des Ortsteils er­möglicht und ihr En­gagement erhalten werden kann. Interessanterweise forcieren seit einigen Jahren Städte - unabhängig von einer Fusion - vermehrt Quartierstrukturen, die vergleichbare Ziele verfolgen.

Die Erkenntnisse aus verschiedenen Projekten* führen aus der Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner zu folgenden Zielen einer Orts­teilstruktur:

-      Identität des Ortsteils erhalten und fördern

-      Bürgernähe gewährleisten

-     Mitwirkung in Belangen des Ortsteils ermöglichen

-  Eigenverantwortlichkeit des Ortsteils fördern

Gemeinden und Bevölkerung haben gleiche Ziele

Die Ziele der Bevölkerung sind weitgehend deckungsgleich mit jenen der Gemeinden. Für sie stehen fol­gende Ziele im Zentrum:

-      Lebensqualität im Ortsteil im Einklang mit den Gesamtinteressen der Gemeinde steigern (Ortsteil­entwicklung)

-      Der Vielfältigkeit gerecht werden und diese als Standortvorteil nutzen

-      Mitwirkung gewährleisten

-      Identifikation fördern

-      Bedürfnisse nach öffentlichen Angeboten nach Möglichkeit mass­geschneidert befriedigen und dadurch Ressourcen effizient einsetzen.

Ortsteile mit Anhörungs- und Vorschlagsrecht

Ein durch die Gemeinde anerkannter Ortsverein kann diesen Zielen in weiten Teilen gerecht werden. Da­bei wird in der Ortschaft ein privatrechtlicher Verein gegründet, in dem Bewohnende sowie im Ortsteil tä­tige Vereine und Unternehmen Mitglied werden können. Im Unterschied zu einem herkömmlichen Quar­tierverein anerkennt die Gemeinde respektive der Gemeinderat den Verein und seine Gremien als An­sprechpartner in Belangen des Ortsteils offiziell an und stattet diesen in Belangen des Ortsteils mit einem Anhörungs- und Vor­schlagsrecht aus. Der Ortsverein übernimmt vor diesem Hintergrund einerseits Aufgaben, welche die Ge­meinde an ihn delegiert, andererseits übernimmt er Aufgaben, die ihm von den Mitgliedern übertragen wer­den. Denkbar sind beispielsweise folgende Aufgabenbereiche:

-      Freizeit und Kultur (Ortsleben fördern, indem bspw. Aktivitäten in Zusam­menarbeit mit den Orts­vereinen organisiert und koordiniert werden, Bindegliedfunktion zu den Ortsvereinen)

-      Verwaltung und Betrieb von «Ortsinfrastruktur» (Verwaltung Mehrzweckanlage, Blumen­schmuck)

-      Mitwirkung in Belangen des Ortsteils (Raumplanung, Verkehrs- und Mobilitätsfragen, Schul­planung)

-      Anlaufstelle für die Gemeindebehörden in Belangen des Ortsteils

-      Zusätzliche (niederschwellige) Anlaufstelle für die Bewohnenden des Ortsteils.

Aus der Bevölkerung entstanden und durch sie legitimiert

Je nach Aufgabenportefeuille unterstützt die Gemeinde den Ortsverein finanziell.

Der durch die Gemeinde anerkannte Ortsverein verfügt im Vergleich zu anderen Möglichkeiten (z.B. die Ortsteilkommission**) über verschiedene Vorteile:

Der Ortsverein entsteht aus der Bevölkerung heraus und setzt deren Interesse und Engagement voraus. Da die Mitglieder den Vorstand wählen, ist dieser – sofern der Verein breit abgestützt ist – legitimiert, die In­teressen des Ortsteils einzubringen. Demgegenüber fehlt beispielsweise einer durch den Gemeinderat ein­gesetzten Kommission diese Legitimation. Durch die breite Abstützung des Vereins und den Einsatz geeig­neter Methoden kann der Verein die unterschiedlichen Bedürfnisse bürgernah einholen, beispielsweise in­dem er Foren veranstaltet oder die Generalversammlung dazu nutzt.

Sind weitere Vereine Mitglied des Ortsvereins, kann dieser das Freizeit- und Kulturangebot der Ortschaft koordinieren und fördern. Er trägt dadurch wesentlich zur Identität des Ortsteils bei. Mit der konkreten Tä­tigkeit vor Ort wird verhindert, dass ein Selbstverständnis einer reinen Interessenvertretung in Form einer Quasi-Behörde entsteht. Die Form des Vereins setzt auf Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Selbstor­ganisation und ist dadurch flexibler. Bei der Detailausgestaltung ist zu klären, ob die Anerkennung des Vereins an Auflagen geknüpft werden soll. Dies könnten beispielsweise die Erfüllung von vereinbarten Aufgaben sein oder eine Anforderung be­züglich Mitgliederzahl im Verhältnis zur Bevölkerung. Zu prüfen ist auch, ob dem Verein neben dem An­hörungs- und Vorschlagsrecht in einzelnen zu definierenden Bereichen ein Entscheidungsrecht eingeräumt werden soll.

Zusammenwachsen fördern, gerade auch bei Fusionen

Mit dem Ortsverein steht dem Gemeinderat ein klar definierter, auf Kontinuität ausgerichteter Ansprech­partner zur Verfügung. Aus der Sicht des Gemeinderates könnte die Unabhängigkeit sowie die breite Ab­stützung und Legitimation des Ortsvereins als problematisch erachtet werden, da seine Tätigkeit weniger steuerbar ist und dadurch mehr Konflikte entstehen könnten als mit einer Kommission oder einem befriste­ten, projektbezogenen Einbezug. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass ein Ortsverein auch ohne die Unter­stützung und Anerkennung der Gemeinde gegründet werden kann, wodurch ein höheres Risiko eines «Ge­geneinanders» entsteht. Vor diesem Hintergrund ist auch die Befürchtung, dass die Ortsteilstruktur das Zu­sammenwachsen einer fusionierten Gemeinde behindern könnte, zu werten. Der anerkannte Ortsverein ermöglicht einen strukturierten Einbezug des Ortsteils auf Augenhöhe und kann dadurch vielmehr das Zu­sammenwachsen fördern. Sollte der Verein aufgrund mangelnden Interesses oder mangelnden Engage­ments nicht zustande kommen oder in einer späteren Phase aufgelöst werden, läge dies in der Verantwor­tung der Bewohnenden und wäre durch die Gemeinde entsprechend zur Kenntnis zu nehmen.

Insbesondere in einer Konstellation, in der über einen längeren Zeitraum hinweg mehrere Regionsgemein­den eine Fusion mit dem regionalen Zentrum prüfen, könnte eine frühzeitige Diskussion über entspre­chende Ortsteilstrukturen und deren Umsetzung einen wesentlichen Beitrag zum Abbau von Befürchtungen und zur Stärkung der Gemeinde leisten.

Stephan Käppeli
HSLU Wirtschaft
Dozent an der Hochschule Luzern

Informationen:

* Die Fusionsprojekte Seedorf-Bauen und Willisau-Gettnau sind Beispiele von mehreren Projekten zum Thema «Rolle der Ortsteile in fusionierten Gemeinden» der Hochschule Luzern (HSLU). Die Erkenntnisse sind für  Gemeinden in vergleichbarer Situation von Bedeutung, da sich die Frage des Umgangs mit ehemals eigenständigen Gemeinden als Ortsteile in einer fusionierten Gemeinde vielenorts als zentrale Frage erweist - insbesondere auch in eher peripheren Räumen.

** Beispielsweise kennt die Stadt Lugano, die seit 2004 mehrere grössere Fusionsrunden mit Nachbargemeinden umgesetzt hat, Quartierkommissionen.