Eine Gemeindepräsidentin setzt sich für einen nachhaltig bewirtschafteten Wald ein: Valérie Jeanrenaud, Gemeindepräsidentin im Waadtländischen Burtigny, sieht im Wald viel Potenzial für mehr Lebensqualität.

Biodiversität am Waldrand hält den Wald lebendig

17.08.2021
7/8 | 2021

Auf einer Länge von 1,4 Kilometern schafft die kleine Waadtländer Gemeinde Burtigny einen nachhaltigen Waldrand. In diesem naturbelassenen Gürtel können sich Pflanzen und Tiere – Vögel, Säuger und Insekten - wie in einer schützenden Hülle ausbreiten.

Jean-Pierre Kaeslin strebt mit grossen Schritten in den hellen Wald, vorbei an den Strünken frisch geschlagener Bäume. Neben einem kleinen Spross geht er in die Hocke, zieht den feinen Stamm mit den hellgrünen Blättchen zu sich und nickt anerkennend: «Was Burtigny hier macht, ist vorbildlich.»

Das Lob gilt dem Projekt, das Förster Kaeslin im Auftrag der kleinen Waadtländer Gemeinde Burtigny umsetzt. 1,4 Kilometer Waldrand werden geschaffen, die 30 Meter tief in den Wald hineinreichen. «Schaffen» heisst in diesem Fall vor allem, der Natur freien Raum zu geben, ihr durch gezieltes Ausdünnen der Bäume Platz zu lassen, damit sich Büsche und Sträucher in verschiedenen Breiten und Höhen entwickeln können. In diesem naturbelassenen Gürtel werden sich Pflanzen und Tiere – Vögel, Säuger und Insekten – ausbreiten, was in einer Monokultur von Bäumen nie der Fall wäre. Ernst Zürcher, Forstingenieur der ETH Zürich und Autor*, der Burtigny auf dem Weg zur nachhaltigen Waldwirtschaft und zu mehr Biodiversität als Berater begleitet, spricht von einer schützenden Hülle, die den Wald vor dem Austrocknen bewahrt und damit auch eine wichtige Rolle für das Grundwasser spielt.

Burtigny liegt 750 Meter oberhalb des Lac Léman auf einer Anhöhe, und der Wind fährt am Tag unseres Besuchs im April gerade mit einer Heftigkeit in die Bäume, als wolle er bestätigen, welche Bedeutung der Waldrand bei Hitze und Trockenheit hat. Zürcher spricht von einem sensiblen Organ: «Am Waldrand ist die Biodiversität am höchsten. Ist diese Hülle intakt, bleibt auch der Wald lebendig.»

Ein bisschen wird der Natur in Burtigny nachgeholfen, indem Bäumchen gepflanzt, Samen ausgestreut oder Eicheln in kleinen Behältern im Wald verteilt werden – als Naschfutter für die Tiere, die so auf natürliche Art bei der Ausbreitung der Eiche helfen. «Wir wollen Eichenbäume haben im Wald. Sie sind weniger anfällig auf Trockenheit als die Rottannen, die aufrecht verdorren», sagt Valérie Jeanrenaud. Die Gemeindepräsidentin von Burtigny ist treibende Kraft hinter dem Projekt «Nachhaltige Waldwirtschaft», und sie redet sich rasch in Begeisterung, wenn sie vom Potenzial eines gesunden, gemischten Walds spricht: vom Erholungsfaktor für Spaziergängerinnen und Spaziergänger, von der Energie, die von den Bäumen auf die Menschen übergeht, von der Idee, deren heilende Kraft für therapeutische Spaziergänge zu nutzen, und davon, dass sie die Betriebsleitungen der beiden Kliniken in der Region für diese Idee gewinnen möchte.

Gleichzeitig ist der Wald für die Gemeinde auch eine Einnahmequelle als Lieferant von Holz zum Bauen und zum Heizen, immerhin erstreckt er sich über mehr als ein Drittel des Gemeindegebiets. Nun ja, nach  Abzug der Kosten für die Bewirtschaftung und Pflege des Walds bleibt ein Defizit übrig, es ist die leidige Sache mit dem Holzpreis, die neben Burtigny manch eine Schweizer Gemeinde kennt. Ernst Zürcher bedauert, dass Schweizer Holz nicht mehr Wert schafft als die Konkurrenz aus europäischen Ländern, die ihre Wälder «teilweise völlig unökologisch bewirtschaften». Ökologisch gerecht wäre seiner Meinung nach ohnehin, eine Abgabe auf das Trinkwasser zu erheben und dem «Konto Wald» zuzuschlagen. «Schliesslich ist der Wald ein Wasserfilter.»

Wie auch immer: Valérie Jeanrenaud hat gar nicht erst versucht, das Thema Waldränder, Nachhaltigkeit und Biodiversität vor die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zu bringen. Das bäuerlich geprägte Dorf mit seinen 390 Einwohnerinnen und Einwohnern hat wenig Steuereinnahmen ­­– sie habe darum eine klare Absage an Ausgaben dieser Art erwartet, wie Jeanrenaud mit leiser Verlegenheit einräumt. Wie also finanziert man ein Projekt, das insgesamt 84 000 Franken kostet? Mit Stiftungsgeldern: 30 000 Franken kamen von der Stiftung der Luxusuhrenmarke Audemar Piguet, die sich seit 1992 weltweit für die Walderhaltung engagiert. 5000 Franken steuerte die Sophie und Karl Binding Stiftung bei; sie unterstützt Projekte in den Bereichen Umwelt, Soziales und Kultur in der ganzen Schweiz. Da viele Stiftungen Gemeinden nicht als Empfängerinnen berücksichtigen können, ist in Burtigny ausserdem die Gründung eines Vereins geplant. Die Kosten von 84 000 Franken verteilen sich über vier Jahre, von 2021 bis 2024. Sie decken die Forstarbeiten zur Auslichtung, Pflanzung und Pflege der Obstbäume, Koordinationssitzungen, die wissenschaftliche Begleitung und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit.

Valérie Jeanrenaud fand in einem Gemeinderatskollegen einen Mitstreiter, dann lernten sie Ernst Zürcher kennen, der das Fachwissen des Wissenschaftlers beisteuert, später kam der Agroingenieur Dominique Ruggli hinzu. Er pflanzt im Auftrag von Burtigny unweit des Waldrands alte und robuste Sorten von Apfelbäumen, deren Früchte künftigen Spaziergängerinnen und Spaziergängern den Effort versüssen sollen. Am Tag unseres Besuchs im April ist Pflanztag, und die Gemeindepräsidentin, die beruflich eine Agentur für Kulturmanagement leitet, hat daraus ein richtiges Happening gemacht: Das Ereignis wird von einem Videojournalisten festgehalten, und zum Abschluss ziehen Pferde Baumstämme an schweren Ketten aus dem Wald. In Burtigny werde allerdings nicht mit Pferden gearbeitet, wie Förster Jean-Pierre Kaeslin einräumt. Aber er verzichtet auf den Einsatz von Reifenfahrzeugen, die sich in den Boden graben, und er lässt einen Baum erst dann fällen, wenn Kaufinteressierte gefunden sind. «Der Boden für mehr Respekt im Umgang mit dem Wald ist bereitet», sagt Kaeslin und fügt an, vielleicht könne das ein Modell für andere sein.

Informationen:

*Ernst Zürcher, «Die Bäume und das Unsichtbare. Erstaunliche Erkenntnisse aus der Forschung», AT Verlag 2016.