
Blatten: eine Gemeinde im Exil
Der Bergsturz vom 28. Mai hat für Blatten alles verändert. Der grösste Teil des Dorfes liegt vergraben unter einem riesigen Schuttkegel. Darunter auch die Gemeindeverwaltung: Das Archiv und zahlreiche Dokumente sind für immer verloren. Die Verwaltung operiert seither aus dem Nachbardorf Wiler. Gemeindepräsident Matthias Bellwald denkt bereits an den Wiederaufbau – ein enormes Unterfangen für die kleine Gemeinde.
In der Gemeindekanzlei Wiler (VS) sind derzeit zwei Gemeindeverwaltungen untergebracht: jene von Wiler selbst und jene vom zerstörten Nachbardorf Blatten. An einer Tür im ersten Stock sind die Öffnungszeiten der Blattner Gemeindeverwaltung angeschlagen. Im Flur hängen Schwarz-Weiss-Fotografien von Bewohnerinnen und Bewohnern des Lötschentals in der wilden Bergwelt. Einige der fotografierten Orte gibt es heute so nicht mehr.
Der Bergsturz vom 28. Mai hat einen grossen Teil von Blatten zerstört, Hunderte Bewohnerinnen und Bewohner haben ihr Zuhause verloren, eine Person ihr Leben. Der Bergsturz hat das Dorf und somit den Gemeindepräsidenten in den Fokus der Öffentlichkeit katapultiert. Matthias Bellwald arbeitet seither fast rund um die Uhr – für die «Schweizer Gemeinde» kann er sich 30 Minuten Zeit nehmen, bevor es weiter zum nächsten Termin geht. Die Fragen beantwortet er routiniert, und im Gespräch wird deutlich: Der Gemeindepräsident blickt nach vorne.
«Ab der ersten Minute nach dem Bergsturz war klar: Wir werden das Dorf wieder herrichten», sagt er. Und fügt an: «Wir sind hier in einem der reichsten und innovativsten Länder der Welt, mit einem hohen Bildungsniveau – wo, wenn nicht hier, können wir ein 300-Seelen-Dorf wieder aufbauen? Das muss zu schaffen sein.»
Grosse Solidarität
Überwältigt sei er von der Unterstützung aus der ganzen Schweiz, sagt Matthias Bellwald weiter. «Diese Hilfsbereitschaft aus allen Landesteilen haben wir Blattnerinnen und Blattner nicht erwartet.» Mehrere Millionen Franken haben Bund, Kantone, Privatpersonen und auch zahlreiche Gemeinden gespendet. Allein über die Patenschaft für Berggemeinden kamen elf Millionen Franken zusammen.
«Diese Hilfsbereitschaft aus allen Landesteilen haben wir Blattnerinnen und Blattner nicht erwartet.»
Besonders gross ist die Solidarität im Lötschental selbst, wo rund 80 Prozent der Blattnerinnen und Blattner provisorisch untergekommen sind. Die Gemeinde Wiler hat der Gemeindeverwaltung Blatten den ersten Stock für die Einrichtung der Gemeindekanzlei und einen eigenen Anschlagskasten zur Verfügung gestellt. Bei der Evakuation von Blatten blieb der Gemeindeverwaltung keine Zeit, um Material in Sicherheit zu bringen. Projektordner, Infrastruktur, das Archiv: Alles wurde durch die Felsmassen zerstört. «Wir sind zum Glück digital gut unterwegs, sodass uns immerhin die digitalen Daten weiterhin zur Verfügung stehen», sagt Matthias Bellwald. Derzeit könne die Gemeindeverwaltung ihre Aufgaben wahrnehmen.
Zusatzaufgaben für die Gemeinde
Hinzu kommen nun aber zahlreiche weitere Aufgaben: Die neue Raumplanung, die Verwaltung der Spendengelder, Wohnraum schaffen bis zur Rückkehr, eine neue landwirtschaftliche Zuteilung, die Herstellung der Basisinfrastruktur und natürlich die Planung des Wiederaufbaus. Derzeit hat die Gemeinde eine zusätzliche Stelle in der Verwaltung ausgeschrieben. Vieles stemmt der Gemeinderat selbst. «Ein Gemeinderatskollege und ich sind pensioniert – wir zwei arbeiten nun quasi Vollzeit», sagt Matthias Bellwald. Die anderen Ratsmitglieder arbeiten voll neben ihrem Mandat und übernehmen nach Mass weitere Zusatzaufgaben.
«Als ich gewählt wurde, habe ich ‹Ja› zu diesem Amt gesagt. Jetzt nehme ich diese Verantwortung auch mit bestem Wissen und Gewissen wahr, denn es ist eine sehr sinnvolle Arbeit», sagt Matthias Bellwald. «Klar rechnet man als Gemeindepräsident nicht damit, aber so ein Jahrtausendereignis kann jeden treffen.»
Den Wiederaufbau muss die Gemeinde immerhin nicht ganz allein bewältigen. Im Sommer wurde in Zusammenarbeit mit dem Kanton eine strategische Wiederaufbaugruppe zusammengestellt und damit die Organisation des Wiederaufbaus aufgegleist. Matthias Bellwald betont, dass nicht ganz Blatten zerstört wurde: Einige Gebäude am Dorfrand sowie die Weiler Weissenried und Eisten sind noch intakt. Diese hätten durchaus Entwicklungspotenzial, so Bellwald. «Aber der Hauptfokus liegt am Aufbau des neuen Blatten im Perimeter des ehemaligen Dorfes.»
Wiederaufbau für die nächsten Generationen
Matthias Bellwald betont auch: Die Gemeinde Blatten gibt es noch. Die Häuser, das Dorf seien zwar zerstört – doch das Territorium, die Alpen und die Weiler bestehen weiterhin. «Und das Wichtigste: Die Bevölkerung lebt, sie ist zwar im Exil und in einer unglaublich schwierigen Lage, aber sie ist da.» Die Vereine sind weiterhin aktiv: Der Kirchenchor probt, die Musikgesellschaft erstellt eine Roadmap für ihr Weiterbestehen, und die Grenadiere sind daran, neue Uniformen zu organisieren und den Herrgottstag 2026 zu planen.
«Wir Blattnerinnen und Blattner begegnen uns in den Dörfern, wir sind nicht allein mit dieser riesigen Herausforderung», sagt Matthias Bellwald. «Wir lieben die Berge und dieses Tal. Den Wiederaufbau Blatten leisten wir unter anderem für die nächsten Generationen – und für das ganze Tal.»