Die Verfahrensbeschleunigungen bei Energieinfrastrukturprojekten schränken die demokratischen Mitspracherechte der Gemeinden ein, kritisiert SGV-Direktor Christoph Niederberger.

«Das ist für die politische Kultur gefährlich»

02.12.2023
12 l 2023

Die Energiepolitik hat den Schweizerischen Gemeindeverband (SGV) im zu Ende gehenden Jahr stark beschäftigt – und immer wieder für Frustration gesorgt. Verbandsdirektor Christoph Niederberger ordnet ein.

Die drohende Energiemangellage im Winter 2022/23 hat im Bundeshaus zu einem regelrechten gesetzgeberischen Aktivismus geführt: Der Mantelerlass, die Solar- und Windexpress-Vorlagen und die Beschleunigungsinitiative wurden alle im Eiltempo zusammengezimmert. Das Nachsehen hatten dabei die demokratischen Mitspracherechte der Gemeinden.

Christoph Niederberger, der SGV möchte die erneuerbaren Energien fördern, beurteilt die aktuellen energiepolitischen Vorlagen aber kritisch. Weshalb?

Zuerst einmal ist es mir ein Anliegen, dass man weiss, dass der Gemeindeverband die bundesrätliche Energiestrategie mitträgt. Die Frage ist aber, wie und mit welchem Tempo man die hohen Ziele erreichen will. Das Abweichen von gesetzgeberischen Prozessen soll nur dann erlaubt sein, wenn eine Notlage vorherrscht. Für das Parlament scheint nun aber bis 2050 eine ausserordentliche Lage vorzuliegen. Das Allheilmittel sieht es in Verfahrensbeschleunigungen, die mit einem Abbau der demokratischen Rechte einhergehen. Meiner Einschätzung nach ist das falsch.             

Demnach gewichtet der SGV die Gemeindeautonomie höher als die Versorgungssicherheit?

Dieses Argument habe ich viel gehört. Meine Antwort ist Nein. Wir alle müssen uns doch an die rechtsstaatlichen Verfahren halten. Im Rahmen der Covid-Pandemie waren alle ausserordentlichen Rechte auf eine bestimmte Zeit begrenzt. Anders beim Beschleunigungserlass. Hier macht das Parlament eine Notlage zur normalen Situation. Das ist für die politische Kultur gefährlich.             

Sie brachten im Frühjahr die Idee eines Wind- und Solarzinses ins Spiel. Als eine Art Kompensation für die Gemeinden, die bei vielen Energieprojekten aussen vor gelassen werden?

Die Frage nach einem Wind- oder Solarzins ist nicht zu vergleichen mit jener nach dem Wasserzins, der verfassungsrechtlich zugesichert ist. Mögliche Abgeltungen im Rahmen von Wind- oder Solarprojekten müssen zwischen dem Projektträger und der Eigentümerschaft privatrechtlich ausgehandelt und festgelegt werden. Ich erwarte hier von der Energiewirtschaft, dass sie nicht nur die Grundeigentümer, sondern auch die Gemeinden angemessen für die beträchtlichen Auswirkungen, die etwa ein grosser Windpark mit sich bringt, abgelten.

Die Stossrichtung des Parlaments scheint klar: Die erneuerbaren Energien sollen nun möglichst rasch ausgebaut werden. Was schaut für die Gemeinden realistischerweise noch heraus?

Die Standortgemeinde muss eine relevante Mitsprache erhalten. Es reicht nicht, beim Nutzungsplan, der nun einmal keine Detailplanung ist, eine einfache Mitsprache zu haben. Zu alledem zeigt die Praxis, dass etwa im Kanton Graubünden bislang alle Gemeinden den Projekten des kantonalen Solarexpresses zugestimmt haben. Die Angst vor den Gemeinden ist also nicht berechtigt. Dies sollten sich die Kritikerinnen und Kritiker einer kommunalen Mitsprache vor Augen führen.         

Weitere wichtige Dossiers des Jahres 2023

Von der Raumplanung über den Langsamverkehr zur Kulturförderung: Gemeinden sind jedes Jahr von zahlreichen Gesetzesvorlagen betroffen. Wir richten den Scheinwerfer auf vier Dossiers, die den SGV 2023 besonders beschäftigt haben.

EFAS

Mit der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) soll die Finanzierung der Gesundheitskosten neu aufgestellt werden. Heute werden die ambulanten und die stationären Behandlungen sowie der Pflegebereich unterschiedlich finanziert. Künftig sollen alle Gesundheitsleistungen einheitlich finanziert werden, unabhängig davon, wer sie erbringt. Dabei bietet EFAS die Chance für eine ausgewogenere Kostenverteilung auf alle Akteure. Dazu muss aber auch die Pflege Teil der Vorlage sein. Der Nationalrat will die Integration der Pflege allerdings an Bedingungen knüpfen. Der SGV setzt sich für eine verbindliche Regelung der Pflege innerhalb der EFAS ein, die allen Akteuren die nötige Planungssicherheit gibt.

Kinderbetreuung

Um Eltern wirkungsvoll zu entlasten und deren Arbeitspensen zu erhöhen, soll der Bund einen Beitrag an die familienergänzende Kinderbetreuung leisten (maximal 20 Prozent der Kosten). Von einer stetigen Bundesbeteiligung an den Kosten der Kinderbetreuung profitieren alle Staatsebenen, die Arbeitgeber und die Wirtschaft, aber auch der Sozialstaat. Das sieht auch der Nationalrat so, der der Vorlage bereits zugestimmt hat. Als Nächstes gilt es, der Vorlage im Ständerat zum Durchbruch zu verhelfen, wozu der SGV mögliche Kompromisslinien ausgearbeitet hat (Beschränkung der Bundesbeteiligung auf den Vorschulbereich, Streichung von Subventionen für die Politik der frühen Kindheit).

Behindertengleichstellung

Der öV soll auch von Menschen mit einer Behinderung selbstständig genutzt werden können. Transportunternehmen und Haltestelleneigentümer (unter anderem Gemeinden) hatten 20 Jahre lang Zeit, die Haltestellen entsprechend umzurüsten – nun läuft die im Behindertengleichstellungsgesetz festgelegte Übergangsfrist ab. Trotz dem Engagement der beteiligten Akteure wird die Umsetzung nicht überall fristgerecht möglich sein, und die Haltestelleneigentümer werden teils Ersatztransporte anbieten müssen. Zusammen mit dem Städteverband und der Alliance SwissPass hat der SGV die Gemeinden über mögliche Ersatzmassnahmen informiert und das konkrete Vorgehen aufgezeigt.

Schutzstatus S

Der Abschlussbericht der Evaluationsgruppe bewertet den Schutzstatus S für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer grundsätzlich positiv, schlägt aber verschiedene Anpassungen vor, unter anderem in der Notfallplanung, der privaten Unterbringung und der Anwendung des Verteilschlüssels. Der SGV begrüsst insbesondere die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Ausrichtung der Integrationspauschale. Problematisch bleibt hingegen der geplante Wechsel von der Asylsozialhilfe zur Nothilfe, sobald der Schutzstatus S aufgehoben wird. Da die Nothilfe nicht alle Kosten deckt, werden finanziell die Gemeinden in der Pflicht stehen. Der SGV wird seine Position im Rahmen der dritten Nationalen Asylkonferenz 2024 gegenüber der zuständigen Bundesrätin darlegen.

Fabio Pacozzi
Schweizerischer Gemeindeverband
Leiter Kommunikation