Christian Levrat, Verwaltungsratspräsident der Schweizerischen Post, sitzt auch im Gemeindeparlament von Vuadens (FR).

«Das Milizsystem ist in einer Umbruchphase»

18.10.2022
10 | 2022

Christian Levrat ist nicht nur aktueller Verwaltungsratspräsident der Post und alt-Ständerat. Er ist auch Gemeindeparlamentarier an seinem Wohnort Vuadens (FR). Ein Gespräch über lokales Engagement und die Zukunft der Milizpolitik.

Christian Levrat, Sie gehörten viele Jahre zu den einflussreichsten Bundesparlamentariern und sind seit 1. Dezember 2021 Verwaltungsratspräsident der Post. Finden Sie überhaupt Zeit für Ihr Engagement im Gemeindeparlament in Vuadens?

Christian Levrat: Ja, auf jeden Fall. Das Gemeindeparlament tagt zweimal pro Jahr, dazu kommen einige Sitzungen der Finanzkommission. Das ist gut machbar. Ich habe seit 2016 nur eine Sitzung des Gemeindeparlaments verpasst. Ich musste die Gemeinde allerdings davon überzeugen, die Sitzungen weit im Voraus festzulegen. Denn ein Termin spontan zwei Wochen später liegt bei mir nicht drin.

Das Gemeindeparlament von Vuadens, der Generalrat, existiert seit 2016. War für Sie damals sofort klar, dass Sie kandidieren werden?

Ja, denn ich war eine jener Personen in der Gemeinde, welche sich stark für ein Gemeindeparlament eingesetzt haben. Ich sehe mein Amt als Gemeindeparlamentarier nicht unbedingt als politisches Amt, sondern als Engagement für meine Gemeinde. Ich möchte etwas zurückgeben. Das ist für mich selbstverständlich. Ich singe nicht, spiele kein Fussball mehr – also engagiere ich mich auf diese Art.

Werden Sie im Gemeindeparlament anders behandelt als die anderen Parlamentarier?

Nein. Ich bin in Vuadens aufgewachsen und zur Schule gegangen. Es ist ein kleines Dorf mit rund 2500 Einwohnerinnen und Einwohnern, und viele Menschen dort kennen mich schon sehr lange. Für sie bin ich nicht «der Politiker». Für mich ist es sehr wichtig, solch einen Ort zu haben. Einzig wenn es im Generalrat um reglementarische Fragen geht, zum Beispiel ob ein Vorstoss auf eine bestimmte Art eingereicht werden kann, hat meine Stimme mehr Gewicht. Da habe ich mehr Erfahrung als die meisten anderen. Die finanzpolitischen Diskussionen, die ich auf Bundesebene geführt habe, helfen mir zudem, die Zahlen besser zu verstehen. Andere haben hier aber einen wertvollen Hintergrund aus der Privatwirtschaft.

Wir erleben Sie das Politisieren im Gemeindeparlament?

Es ist klar weniger parteipolitisch und ideologisch geprägt als auf Bundesebene. Auf Gemeindeebene geht es um konkrete Fragen, die meine Nachbarn direkt betreffen, und das ist das Schöne daran. Entscheide sind viel unmittelbarer, Rückmeldungen und Kritik kommen sehr direkt. Zumindest in der Gemeindeexekutive braucht es dafür ein dickes Fell. Auf Bundesebene merkt man vielleicht nach drei Jahren, ob ein Entscheid richtig oder falsch war. Auf Gemeindeebene geht das viel schneller.

«Auf Bundesebene merkt man vielleicht nach drei Jahren, ob ein Entscheid richtig oder falsch war. Auf Gemeindeebene geht das viel schneller.»

Christian Levrat, Verwaltungsratspräsident der Post und Gemeindeparlamentarier in Vuadens (FR)

Können Sie ein Beispiel nennen für solch ein konkretes Geschäft?

Die Neugestaltung der Ortsdurchfahrt und des Dorfzentrums von Vuadens war ein gutes Beispiel. Diese wurde sehr kontrovers diskutiert. Sie sah Einschränkungen für den motorisierten Verkehr vor, und das ist für ein ländlich geprägtes Dorf wie Vuadens schwierig – wir hatten viele Diskussionen mit den Landwirten. Dieses Projekt war eine der grössten Investitionen der Gemeinde; sie betrug ungefähr die Hälfte eines Jahresbudgets. Nach drei Jahren wurde das Geschäft allerdings einstimmig angenommen.

Wie ist das gelungen?

Die Leute haben sich im Detail mit dem Geschäft auseinandergesetzt und sind zum Schluss gekommen, dass es sinnvoll ist. Man muss die Leute in so einem Fall mitnehmen, die Details anschauen und gemeinsam Lösungen suchen. Es war ein sehr spannender gruppendynamischer Prozess.

Wäre das gelungen ohne ein Gemeindeparlament?

Ich denke nicht. Dank dem Gemeindeparlament ist nicht nur die Bevölkerung besser repräsentiert, die Abgeordneten setzen sich auch intensiver mit den Geschäften auseinander. Deshalb habe ich mich für die Einführung des Generalrates eingesetzt.

Dies, obwohl es für viele Gemeinden immer schwieriger wird, Milizämter zu besetzen. Wie ist das in Vuadens?

Ich engagiere mich aktiv in der Kandidatensuche und kann sagen: Es ist sehr schwierig. Für das Gemeindeparlament ist es noch einfacher, da ist das Problem eher, dass die potenziellen Kandidierenden nicht unbedingt einer Partei beitreten wollen. Bei der Exekutive stellt sich vor allem die Frage nach der Verfügbarkeit und der Zeit. Hier ist es wichtig, potenziellen Kandidierenden reinen Wein einzuschenken und zu erklären, wie viel Aufwand so ein Amt bedeutet.

«Ich sehe mein Amt als Gemeindeparlamentarier nicht unbedingt als politisches Amt, sondern als Engagement für meine Gemeinde. Ich möchte etwas zurückgeben.»

Christian Levrat, Verwaltungsratspräsident der Post und Gemeindeparlamentarier in Vuadens (FR)

Wie könnte die Zukunft des Milizsystems angesichts dieser Herausforderungen aussehen?

Ich glaube, dass wir in einer Umbruchphase sind. Die Ämter auf Gemeindeebene beanspruchen immer mehr Zeit. Viele Gemeinden lösen die komplexer werdenden Aufgaben zusammen und gründen dafür regionale Gemeindeverbände, in welche sie ihre Gemeinderäte delegieren. Diese haben dort aber weniger Einfluss, was frustrierend sein kann.

Welche Lösungsansätze sehen Sie?

Eine Professionalisierung der Verwaltung kann helfen, sodass sich die Gemeindeexekutive auf die strategischen Aufgaben konzentrieren kann, und sie entlastet wird. Eine Teilanstellung der Gemeinderätinnen und Gemeinderäte kann ebenfalls Sinn ergeben, weil sie transparent aufzeigt, wie viel Aufwand das Amt bedeutet und wie man entschädigt wird. Ein gewisses Potenzial sehe ich auch in Gemeindefusionen, weil so die Administration eine Grösse erhält, in der sie professionell arbeiten kann.

Welchen Beitrag kann die Wirtschaft leisten, um das Milizsystem zu stärken?

Natürlich hilft es, wenn Arbeitgeber flexibel sind in Bezug auf Milizämter und zum Beispiel Freitage oder flexible Arbeitszeiten ermöglichen und dies transparent machen. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels kann dies zur Attraktivität von Unternehmen beitragen. Und sie profitieren auch von der Miliztätigkeit und der daraus resultierenden Erfahrung ihrer Mitarbeitenden. Bei der Post arbeiten rund 300 Angestellte, die in einem Milizamt in einer Gemeinde tätig sind. Dazu zählt auch der Vize-Gemeindepräsident von Vuadens.

Zur Person

Der Freiburger Christian Levrat ist 2003 in den Nationalrat gewählt worden, nachdem er mit seiner Arbeit für die Schweizerische Flüchtlingshilfe und die Gewerkschaft Kommunikation bekannt geworden war. Von 2008 bis 2020 war er Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. 2012 wurde er in den Ständerat gewählt. Dieses Amt gab er auf, nachdem er zum Verwaltungsratspräsidenten der Post ernannt worden war und diese Stelle am 1. Dezember 2021 angetreten hatte. Seit 2016 ist er zudem Mitglied des Generalrates, also des Gemeindeparlaments seiner Heimatgemeinde Vuadens (FR).