Die Fangesänge, die geschwenkten Fahnen, die illegalen Feuerwerke: Das gefiel dem jugendlichen Flavio.

Der Ex-Hooligan und die Familienbegleitung

02.02.2024
1-2 l 2024

Die sozialpädagogische Familienbegleitung arbeitet mit Familien in Schwierigkeiten. Dass auch das Coaching eines Jugendlichen erfolgreich sein kann, zeigt ein Auszug aus dem Buch «Wenn Familien wanken und Kinder leiden».

Ronnie Hollenstein, Familienbegleiter bei Vorsa – Soziale Arbeit vor Ort –, trifft nach zwei Jahren einen ehemaligen jugendlichen Klienten wieder. Er hat ihn damals beim Ausstieg aus der gewalttätigen Hooliganszene unterstützt.

Als Flavio* 14 Jahre alt war, brummte die Kesb ihm eine Familienbegleitung auf. Grund: Er fehlte in der Schule immer wieder unentschuldigt und hatte im Klassenlager einen Lehrer bedroht. Flavio sah Ronnie Hollenstein zum ersten Mal, als er ihm im Büro der Kesb gegenübersass. Hollenstein ist Familiencoach bei Vorsa, er begleitet belastete Familien, vor allem mit jugendlichen Kindern, in ihrem Zuhause. Der 19-Jährige Flavio erinnert sich: «Ich lehnte diese Massnahme ab, hatte gar keinen Bock drauf. Ich war wütend, dass ich da sein musste. Überhaupt war ich in dieser Zeit vor allem eines: wütend.»

Mit einer jüngeren Schwester wuchs Flavio bei der alleinerziehenden Mutter in Rapperswil (SG) auf, die Eltern lebten schon lange getrennt. Flavio fühlte sich allein, hatte kaum Freunde, die Schule hasste er, seit er in der Oberstufe war. Mit der Mutter verstand er sich nicht gut, heute denkt er, dass sie psychische Probleme hat. 

Als er eines Tages mit seinem Vater einen Fussballmatch des FC Basel besuchte, wusste er: Das ist es. Sie sassen auf der normalen Tribüne, und sein Blick wanderte immer wieder hinüber zum Fansektor. Was dort abging – die Fangesänge, die geschwenkten Fahnen, die illegalen Feuerwerke –, das gefiel ihm. Bald fuhr der Teenager allein nach Basel und ins Stadion, und er fand dort überraschend schnell Anschluss.

«Ich fand dort Kollegen, die ebenso wütend waren wie ich», sagt Flavio. Der Teenager war fasziniert von den Hooligans, die sich nach den Spielen mit den gegnerischen Fans prügelten, die versuchten, die Fahnen der gegnerischen Ultras zu klauen, und die sich mit der Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel lieferten. Der 14-Jährige himmelte die erwachsenen Hooligans an, die unter der Woche ein normales Leben mit seriösen Jobs führten und am Wochenende gegen andere Hooligans kämpften. «Mir gefiel dieser Lebensstil, und mir gefiel, wie aggressiv und kalt sie waren.» 

Die neue Familie in der Fankurve

Die regelmässigen Fahrten in die entfernte Stadt finanzierte sich der Jugendliche mit einer eigenen Geschäftsidee. Er liess in Polen Kleber mit Sprüchen wie «All Cops Are Bastards» («Alle Bullen sind Mistkerle») produzieren und verkaufte sie online.

In der Hooliganszene fand Flavio, was er zu Hause vermisst hatte: klare Strukturen, feste Regeln – die Hooligans verhalten sich nach einem Ehrenkodex –, Vorbilder und Freunde, die füreinander einstanden. Er fand dort eine Ersatzfamilie. Zurück in der Heimatstadt und in der verhassten Schule gab er mit seinem neuen Hooliganimage an. «Diese Neuigkeit machte schnell die Runde. Alle in der Schule hatten Angst vor mir.» Es war ein aufregendes Leben, das ihn beflügelte, bis etwas Einschneidendes passierte.

Nach einem Spiel, bei dem die Stimmung unter den Fans sehr aufgeheizt war, duellierten Flavio und seine Kollegen sich mit gegnerischen Fans. Zufällig stand ein ziviler Kastenwagen der Polizei in der Nähe. Beamte in Vollmontur verfolgten die Hooligantruppe, die in einen Park rannte, wo die Jugendlichen illegale Gegenstände versteckten, die sie bei sich trugen. In der Aufregung bemerkte Flavio nicht, dass er immer noch Sprengstoff bei sich hatte. Er wurde verhaftet und sass zwei Stunden im Untersuchungsgefängnis. «Das ist mir eingefahren. Mir wurde schliesslich nur ein Verstoss gegen das Sprengstoffgesetz vorgeworfen. Von der Schlägerei war gar nicht die Rede.» Flavio musste trotzdem bei der Jugendanwältin antraben. Diese gab ihm noch einmal eine Chance, sich zu bessern. Sie sagte, sie spüre bei ihm keine kriminelle Energie, und zog den Strafantrag zurück. 

Ronnie Hollenstein besuchte den 14-Jährigen einmal pro Woche zu Hause in seinem düsteren Jugendzimmer, das vollgepflastert war mit Flaggen, Stickern, Graffiti. Sprüche wie «Wir sind das Volk» oder «Fickt die Polizei» gefielen dem Sozialarbeiter gar nicht, wie er erzählt. «Auch wenn Flavio ziemlich ernsthaft bei der Sache war, seine Probleme zu lösen: In diesem Zimmer konnte er nicht gesund werden. Dieses aggressiv-frustrierende Klima hätte ihn immer wieder runtergezogen.»

Rückzug aus der Hooliganszene

Die zwei Stunden U-Haft sassen dem jungen Mann immer noch in den Knochen. Er wusste, dass er erneut mit dem Gesetz in Konflikt käme, wenn er die Fussballspiele weiterhin besuchte. Deshalb beschloss er, sich nach und nach aus der Hooliganszene zurückzuziehen. Wenn die Kollegen ihn fragten, weshalb er nicht an den Match komme, hatte er jetzt die Ausrede, er müsse arbeiten. Flavio hatte nämlich eine Lehre begonnen, zu der auch Einsätze am Wochenende gehörten.

In dieser Zeit beschlossen er und sein Sozialarbeiter, dass Flavios Zimmer einen neuen Anstrich nötig hat. Schweren Herzens entfernte Flavio alle Sticker und Fahnen von der Wand. Gemeinsam strichen sie das Zimmer neu. Ronnie Hollenstein ist heute noch begeistert, wenn er von dieser Aktion erzählt. Er sagt lachend zu Flavio: «Weisst du eigentlich, wie gern ich das Logo deines Fussballclubs übermalt habe?» Die Farbe, Grau mit 3-D-Effekt wie Stein, hatten sie gemeinsam in einem Fachgeschäft ausgesucht.

Fakten und Reportagen

Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus dem erzählenden Sachbuch zum Thema Kindesschutz «Wenn Familien wanken und Kinder leiden». Es porträtiert umfassend und vielschichtig den Beruf und das Arbeitsfeld der Sozialpädagogischen Familienbegleitung (SPF). Die Journalistin Sabine Arnold hat dazu Resultate aktueller Studien zusammengetragen – etwa zur uneinheitlichen Finanzierung – und mit Reportagen aus der Berufspraxis zu einem lebhaften, leicht lesbaren Text aufbereitet.

Sabine Arnold
Journalistin und Kommunikationsberaterin