Prof. Dr. Marcel Salathé leitet an der ETH Lausanne das Labor für digitale Epidemiologie. Er sagt: «Es gibt Tausende Beispiele, wo die Gemeinden dank Digitalisierung ihren Bürgerinnen und Bürgern wie auch sich selbst das Leben vereinfachen könnten.»

«Die Gemeinde teilte mir mit, dass meine Daten möglicherweise gehackt wurden»

19.04.2022
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Der Epidemiologe Marcel Salathé hat die Swiss Covid App mitentwickelt. An der GV des Schweizerischen Gemeindeverbands vom kommenden 19. Mai spricht er über Chancen und Gefahren von «digitalisierten» Gemeinden.

Was bedeutet die viel zitierte Digitalisierung konkret für Gemeinden? Was muss die Verwaltung eines Dorfs, einer Stadt oder einer Agglomeration tun, um «smart» zu arbeiten? Diesen und weiteren Fragen gehen am kommenden 19. Mai Fachleute und Politiker anlässlich der Generalversammlung des Schweizerischen Gemeindeverbands nach (siehe Infobox). Einer der Gäste: Professor Marcel Salathé, der an der ETH Lausanne das Labor für digitale Epidemiologie leitet.

Prof. Dr. Marcel Salathé, nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie: Welche Note würden Sie den Schweizer Behörden punkto Digitalisierung geben?

(Lacht.) Ich behalte mir vor, nur meine Studenten zu benoten.

Zu Beginn der Pandemie machte das BAG Schlagzeilen, weil es gewisse Daten noch via Fax empfing …

Es gibt sicher Beispiele, wo es nützlich gewesen wäre, wenn die Schweiz bereits stärker digitalisiert gewesen wäre. Auch die Swiss Covid App konnte zwar rasch entwickelt, dann aber nicht gut in unser Gesundheitssystem integriert werden. Dabei hat sich die Technik, die in der App steckt, weltweit gesehen als solid erwiesen.

Sie haben diese App mitentwickelt. Wie lautet Ihr Fazit?

Die Technologie, die in der App steckt, hat in mehreren Ländern sehr gute Dienste geleistet. In England etwa hat sie erwiesenermassen Hunderttausende Ansteckungen verhindert und somit Hunderte oder Tausende Leben gerettet. In der Schweiz war die App freilich eher ein Fremdkörper im System. Allein schon zum Aktivieren der App musste man auf einen Code warten, und das dauerte teils viel zu lange. Mein Fazit fällt also durchzogen aus.

Wie wäre die Pandemie wohl verlaufen, wenn die Menschheit noch nicht «digitalisiert» gewesen wäre?

Es wäre natürlich alles viel komplizierter und langsamer gewesen. Das beginnt schon bei der Entdeckung des Virus: Die genetische Sequenz des Virus war recht schnell einmal für alle im Internet zugänglich. Dadurch stand die Blaupause für einen Impfstoff bereits wenige Tage später. All das wäre ohne Digitalisierung nicht möglich gewesen.

Von der Pandemie zurück zu den Behörden: In welchen Bereichen kann die Digitalisierung die Gemeindeverwaltungen verändern?

Einerseits kann die Digitalisierung den Aufwand einer Gemeindeverwaltung senken. Andererseits kann sie aber auch die Interaktion mit den Bürgerinnen und Bürgern verbessern. Dazu ein konkretes Beispiel: Meine Kinder sind im schulpflichtigen Alter. Wollen sie sich in der Schulkantine verpflegen, müssen sie mit Papierbons bezahlen. Diese Papierbons sind aber nur am Gemeindeschalter erhältlich, und der wiederum ist lediglich an zwei Halbtagen pro Woche überhaupt geöffnet. Das ist sicher nicht mehr zeitgemäss.

Was wäre also Ihre Lösung?

Man müsste sich überlegen, ob diejenigen Kinder, die ein Handy haben, nicht auch damit bezahlen könnten. Oder ob die Bons nicht zumindest online bestellt und zu Hause ausgedruckt werden könnten. Ich bin sicher, es gibt Tausende solcher Beispiele, wo die Gemeinden dank Digitalisierung ihren Bürgerinnen und Bürgern wie auch sich selbst das Leben ziemlich vereinfachen könnten.

Sehen Sie in der zunehmenden Digitalisierung auch Risiken?

Sicher. Kürzlich wurde mir von einer Gemeinde mitgeteilt, dass möglicherweise einige meiner Daten gehackt wurden. Solche Cyberattacken auf Gemeinden gibt es leider immer häufiger. Gleichzeitig sind aber viele Gemeinden recht klein und haben vielleicht nicht die Mittel, sich professionell vor Hackerangriffen zu schützen. In diesem Bereich müssen sicher noch Lösungen gefunden werden.

Und dass die Gemeindeverwaltung durch die zunehmende Digitalisierung an Bürgernähe einbüsst – diese Gefahr sehen Sie nicht?

Ich denke nicht. Es ist wohl wie in der Medizin auch: Je digitalisierter eine Gemeindeverwaltung ist, desto mehr Zeit bleibt für den wirklichen Austausch. Oder anders gesagt: Wenn ich nicht Zeit verschwenden muss, um diese Papierbons zu holen, habe ich mehr Zeit, um mich anderweitig in der Gemeinde einzubringen, falls ich das möchte. Ich schaue die Digitalisierung primär als Chance an.

Save the date! GV am 19. Mai

Nach zwei Jahren, in denen unsere Generalversammlung pandemiebedingt nur digital abgehalten werden konnte, darf der Schweizerische Gemeindeverband seine Mitglieder nun wieder persönlich begrüssen. Unsere GV geht am Donnerstagvormittag, 19. Mai 2022, in Yverdon-les-Bains (VD) im Kongresszentrum La Marive über die Bühne.

Nebst den statutarischen Geschäften soll dabei ausführlich auf die Digitalisierung und ihre Chancen und Risiken für Gemeinden eingegangen werden. Nebst unserem Interviewpartner Prof. Dr. Marcel Salathé diskutieren unter der Leitung von SRF-Korrespondentin Felicie Notter die Waadtländer Staatsrätin Christelle Luisier Brodard, Peppino Giarritta von der Organisation Digitale Verwaltung Schweiz, Chantal Weidmann Yenny von der Union des Communes Vaudoises, sowie Ständerat und SGV-Präsident Hannes Germann. Die Einladungen wurden kürzlich versandt, eine Simultanübersetzung Deutsch–Französisch ist gewährleistet. Der Schweizerische Gemeindeverband würde sich freuen, Sie demnächst in Yverdon-les-Bains zu begrüssen!

Fabio Pacozzi
Leiter Kommunikation
Schweizerischer Gemeindeverband