Adrian Vatter und Martina Flick Witzig: Initiative, Referendum, an der Gemeindeversammlung oder einfach den Gemeindepräsidenten ansprechen: Nirgends können sich Einwohnerinnen und Einwohner in ihrer Gemeinde mehr einbringen als in der Schweiz.

Die Rekordhalter in Sachen Gemeindeautonomie

07.06.2023
6 l 2023

Was den Grad der politischen Selbstbestimmung der Bürgerschaft angeht, sind die Schweizer Gemeinden Weltmeister. Das schreiben Adrian Vatter und Martina Flick Witzig in ihrem neuen Buch «Direkte Demokratie in den Gemeinden».

Adrian Vatter und Martina Flick Witzig, Sie sagen, die Stellung der Schweizer Gemeinden im Staat sei stärker als in anderen Ländern. Wie gelangen Sie zu dieser Erkenntnis?

Adrian Vatter: Es gibt dazu verschiedene Untersuchungen. So tätigen die Schweizer Gemeinden etwa einen Viertel aller öffentlichen Ausgaben, was im internationalen Vergleich ein hoher Anteil ist. Auch die Häufigkeit der kommunalen Abstimmungen weist auf eine hohe Autonomie hin. Gerade Deutschschweizer Städte nehmen punkto Mitbestimmung weltweit einen Spitzenplatz ein.

Haben Sie eine Erklärung, weshalb der Schweizer Föderalismus so stark ausgeprägt ist?

Adrian Vatter: Ich vermute, dass das mit der Heterogenität unseres Landes zusammenhängt. Wir haben städtische und ländliche Gebiete, es gibt sprachliche, kulturelle und gab früher auch konfessionelle Unterschiede. Der Föderalismus, der den kleinen Einheiten möglichst viel Spielraum geben will, ist sicher die geeignete Staatsform, um solchen lokalen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ein Land mit einer homogenen Bevölkerung ist wohl weniger darauf angewiesen.

Martina Flick Witzig: Eine Rolle spielt sicher auch, dass es die Kantone schon vor dem Bundesstaat gab. Sie waren damals nicht unbedingt erpicht darauf, möglichst viele Kompetenzen an eine neue, übergeordnete Staatsebene abzugeben.

«Schweizer Gemeinden tätigen etwa einen Viertel aller öffentlichen Ausgaben.»

Prof. Dr. Adrian Vatter

Trotzdem: Auch bei der Anwendung der direktdemokratischen Instrumente, also dem kommunalen Initiativ- und Referendumsrecht, machen Sie einen Röstigraben aus.

Martina Flick Witzig: In grösseren Städten und generell in der Deutschschweiz kommen viel mehr kommunale Vorlagen an die Urne. Die Stadt Bern etwa stimmt im Schnitt zwölfmal pro Jahr über ein kommunales Geschäft ab. Gleichzeitig gibt es Gemeinden, die während 20 Jahren nicht ein einziges Mal über eine kommunale Vorlage abgestimmt haben. Die Varianz ist also extrem gross – auch was die kantonalen Vorgaben betrifft. In einigen Kantonen gelten für kommunale Initiativen und Referenden strenge Vorschriften, andere lassen den Gemeinden weitreichende Freiheiten. Im Tessin etwa können Gemeinden sogar fusionieren, ohne dass dabei zwingend ein obligatorisches Referendum stattfinden muss.

Wie lassen sich diese Unterschiede erklären?

Martina Flick Witzig: Das liegt wohl an den unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie Demokratie funktionieren soll. In der Deutschschweiz ist vielfach das direktdemokratische Ideal vorhanden, wonach bei wichtigen Entscheiden das Volk das letzte Wort haben soll. In der Romandie herrscht eher das repräsentativdemokratische Ideal vor: Man wählt ein kommunales Parlament, und das entscheidet dann auch.

Aus rein politwissenschaftlicher Sicht: Wäre es begrüssenswert, wenn jede Gemeinde ausgebaute Initiativ- und Referendumsrechte vorsehen würde?

Adrian Vatter: Im internationalen Kontext ist das Mitspracherecht der Schweizer Gemeinden wie erwähnt schon stark ausgeprägt. Auch stellt sich die Frage, ob die Wählerinnen und Wähler überhaupt bereit sind, sich mit noch mehr Vorlagen vertieft zu befassen. Wichtig ist, dass man bei grundlegenden Themen abstimmen kann, es muss aber nicht über jede Verordnung abgestimmt werden. Ausserdem: Je stärker die Mitsprache- oder Vetorechte der einzelnen Gemeinden ausgebaut sind, desto schwieriger wird es für grosse Infrastrukturprojekte, die der ganzen Landesbevölkerung zugutekommen. Frankreich etwa hat in wenigen Jahren eine TGV-Linie Paris–Marseille realisiert; bei uns wäre das nicht vorstellbar. Ich würde also nicht sagen, dass es immer automatisch besser ist, je stärker die direktdemokratischen Rechte ausgebaut sind.

Martina Flick Witzig: Hinzu kommt, dass es in jeder Gemeinde Möglichkeiten gibt, auf die eine oder andere Art Bedürfnisse anzumelden. Wenn Handlungsbedarf besteht, kann vielleicht auch an der Gemeindeversammlung ein Antrag gestellt werden, oder man kontaktiert die Gemeindeexekutive auf informellem Weg. Von daher scheint es mir ebenfalls nicht nötig zu sein, dass überall ein formelles Initiativrecht eingeführt wird, das dann jeweils zu Urnenabstimmungen führt.

«Auf kommunaler Ebene ist es einfacher, Bedürfnisse aufzugreifen, die mehrheitsfähig sind.»

Dr. Martina Flick Witzig

In Ihrem Buch machen Sie die Beobachtung, dass kommunale und kantonale Vorlagen fast doppelt so häufig angenommen werden wie eidgenössische Sachgeschäfte. Vertraut die Bevölkerung der Gemeinde mehr als dem Bund?

Martina Flick Witzig: Obligatorische Referenden auf kommunaler Ebene werden in über 90 Prozent aller Fälle angenommen. Auch Initiativen werden deutlich häufiger angenommen als auf Bundesebene. Das könnte daran liegen, dass die kommunale Ebene übersichtlich ist und es einfacher ist, Bedürfnisse aufzugreifen, die mehrheitsfähig sind.

Adrian Vatter: Zudem braucht es auf kommunaler Ebene proportional oftmals mehr Unterschriften, damit eine Initiative oder ein Referendum zustande kommt. Das heisst, dass das höhere Quorum die Spreu vom Weizen trennt. Vorlagen, die diese Hürde überwinden und an die Urne kommen, können bereits auf breiten Rückhalt zählen.

«Direkte Demokratie in den Gemeinden» schliesst eine Forschungslücke

Prof. Dr. Adrian Vatter ist Inhaber der Professur für Schweizer Politik und Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Dr. Martina Flick Witzig ist Postdoc am Lehrstuhl für Schweizer Politik der Universität Bern. In ihrem Buch «Direkte Demokratie in den Gemeinden» untersuchen die beiden Autoren erstmals systematisch die direktdemokratischen Instrumente auf kommunaler Ebene. Analysiert werden 67 repräsentative Gemeinden aus allen Kantonen der Schweiz, darunter auch alle Städte mit mehr als 50 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Das Buch erscheint am 12. Juni 2023 im Verlag NZZ Libro.

Fabio Pacozzi
Leiter Kommunikation SGV