Man trifft sich zum Dorfspaziergang, initiiert von der Seniorenkommission im April 2023.

«Es braucht jetzt auch die Gesellschaft»

09.10.2023
10 l 2023

Suhr nimmt am Programm Socius der Age-Stiftung teil. Die Aargauer Gemeinde unterstützt ältere Menschen dabei, möglichst lange zu Hause zu wohnen. Ein neuer Dorfverein mit Freiwilligen soll dabei eine wichtige Rolle spielen.

«Lebensqualität im Alter»: Unter diesen Titel stellt die Gemeinde Suhr (AG) das Projekt, mit dem sie am Programm Socius 2 teilnimmt (siehe Kasten). Lebensqualität bedeutet für viele Ältere, möglichst lange selbstständig zu Hause zu wohnen. Aber auch: sich zugehörig zu fühlen, Kontakte zu pflegen. Suhr mit seinen gut 11 000 Einwohnerinnen und Einwohnern fördert all dies mit einer Gesamtstrategie, teilweise schon länger. Nun kommt das Ziel hinzu, eine sogenannte sorgende Gemeinschaft aufzubauen. Darin wirken professionelle Leistungserbringer und freiwillig Engagierte zusammen, initiiert von der Gemeinde.

Das Konzept entstand unter Begleitung der Fachhochschule Nordwestschweiz, involviert waren die verschiedensten Organisationen und Akteure rund ums Alter, inklusive der älteren Bevölkerung. «Wir wollen der demografischen Entwicklung nicht tatenlos zuschauen», betont Gemeinderat Daniel Rüetschi (FDP), Vorsteher des Ressorts Soziales, Gesellschaft und Gesundheit. Gemäss Prognose werden im Jahr 2030 mehr als anderthalbmal so viele über 80-Jährige in Suhr leben wie zehn Jahre zuvor. Betreuende Angehörige leisteten schon jetzt enorm viel, so Rüetschi, gleichzeitig herrsche beim Pflegepersonal Fachkräftemangel: «Es braucht jetzt auch die Gesellschaft, um mit dieser Situation umzugehen.»

Unkomplizierte Hilfe

Eine der wichtigsten Neuerungen ist, dass die bestehende Seniorenkommission erweitert und in einen Verein überführt werden soll. Die von der Gemeinde mit einem kleinen Budget ausgestattete Kommission habe bereits heute eine wichtige Funktion an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Bevölkerung, erklärt Alexandra Steiner, Leiterin der Fachstelle Alter in Suhr und Socius-Projektleiterin. Mit dem Verein soll dies noch ausgebaut werden: «Wir können darin alle einbinden, die sich im und fürs Alter engagieren möchten, sei es mit Ideen, Anlässen, Anliegen oder um in der Nachbarschaftshilfe mitzuwirken.»

Ob kleinere Reparaturen im Haushalt oder Hilfe im Garten: Unkomplizierte Unterstützung im Alltag ist erwünscht. Das ergab eine Befragung der älteren Bevölkerung zu Beginn des Socius-Projekts. «Früher wäre es selbstverständlich gewesen, rasch beim Nachbarn zu klingeln», sagt Alexandra Steiner, «doch die gesellschaftlichen Strukturen verändern sich.» Zugleich gebe es durch den demografischen Wandel mehr Pensionierte, die sich mit ihren Fähigkeiten einbringen möchten. Um dieses Potenzial zu nutzen, brauche es ein Gefäss.

Mehr Koordination 

Die Gründung des Vereins ist für den Frühling 2024 vorgesehen, und es gibt schon interessierte Freiwillige. Wie die Gemeinde mit dem Verein zusammenarbeitet und wie sie ihn unterstützt, sei noch nicht festgelegt, sagt Gemeinderat Rüetschi. Sicher ist: Der Verein wird als Sprachrohr der älteren Bevölkerung in der Fachgruppe Alter vertreten sein. In diesem seit fünf Jahren bestehenden Gremium tauschen sich – unter Federführung der Gemeinde – die professionellen Pflege- und Betreuungsanbieter regelmässig aus. Dazu gehören die beiden Pflegeheime in Suhr, die Spitex, die Kirchen und weitere Organisationen.

Dass die Profis untereinander vermehrt zusammenarbeiten, ist denn auch ein weiterer alterspolitischer Hebel der Gemeinde Suhr. Für Rüetschi ist klar: «Wir können es uns nicht mehr leisten, dass jede Institution nur für sich schaut.» Anfang 2023 fusionierten die Spitex Suhr und das Alters- und Pflegeheim Steinfeld, das von fünf Gemeinden getragen wird, darunter Suhr. Aber auch mit weniger weit gehenden Formen der Koordination sei viel gewonnen. So beteiligt sich Suhr am Pilotprojekt «Gesundheit Region Aarau», um die Versorgung regional stärker zu koordinieren und die Mittel gezielt einzusetzen.

Kostenwachstum dämpfen

Im Kanton Aargau tragen die Gemeinden die Pflegerestkosten. Unterstützt Suhr zu Hause lebende ältere Menschen stärker und ziehen diese somit länger nicht ins Heim, könnte dies auch das Kostenwachstum bei den stationären Pflegekosten dämpfen. Laut Alexandra Steiner gibt es vor Ort viele professionelle und ehrenamtliche Trägerschaften und Angebote, die ältere Menschen unterstützen, darunter Fahr-, Mahlzeiten- und Besuchsdienste. Es brauche «nichts grossartig Neues». Die Herausforderung sei vielmehr gewesen, «alles zusammenzubringen, ohne eine überdimensionierte, mit hohen Kosten verbundene Struktur zu schaffen».

Der gewählte Weg ist so innovativ wie pragmatisch auf die Suhrer Verhältnisse zugeschnitten. Mit dem Einbezug von Freiwilligen fängt die Gemeinde laut Sozialvorsteher Rüetschi auch eine Gesetzeslücke auf, die zu verfrühten Heimeintritten führt. Anders als die Pflege müssen Betreuung und Unterstützung zu Hause vollständig privat bezahlt werden: «Doch das können sich die meisten Menschen in Suhr nicht leisten.» Auch ein betreutes Wohnen sei für viele zu teuer, da es nicht wie das Pflegeheim mit Ergänzungsleistungen finanziert werden kann. Zwar will der Bundesrat dies ändern, doch die politische Ausmarchung hat erst begonnen.

Über das Alter reden

In Suhr ist man im breiten Rahmen über das Alter ins Gespräch gekommen, wie Projektleiterin Alexandra Steiner bilanziert. Das soll auch die älter werdenden Menschen sensibilisieren, sich rechtzeitig mit der Frage zu befassen: Was werde ich benötigen, um weiterhin selbstbestimmt leben zu können, wenn altersbedingte Einschränkungen auftreten? Viele setzten sich zu spät damit auseinander. Gelinge die Sensibilisierung, «trägt das Socius-Projekt längerfristig Früchte».

Programm Socius in Kürze

Die Age-Stiftung führt von 2020 bis Ende 2023 zum zweiten Mal das Programm «Socius – wenn Älterwerden Hilfe braucht» durch. Es leistet einen Beitrag zur Frage, wie Gemeinden und Regionen ein bedürfnisorientiertes Unterstützungssystem für autonom lebende hochaltrige Menschen aufbauen können. Wiederum werden zehn Projekte fachlich und finanziell unterstützt. Das Programm erzeugt Wissen und macht dieses anderen Gemeinden zugänglich. Alle Ergebnisse werden bis Sommer 2024 publiziert.

Susanne Wenger
im Auftrag des Programms Socius