Die Tagesstätte in Chiasso (TI) bietet verschiedene Aktivitäten für ältere Menschen an.

Förderung von Lebenskompetenzen in Chiasso

11.10.2023
10 l 2023

An einem sonnigen Nachmittag besuchen wir die Seniorentagesstätte in Chiasso. Wir werden von einer Gruppe älterer Menschen begrüsst, die fröhlich Karten spielen. Chiara Maspero, Leiterin der Tagesstätte, nimmt uns in Empfang.

Mit der steigenden Lebenserwartung gilt es, ein besonderes Augenmerk auf die psychische Gesundheit von älteren Menschen zu legen. Zur Erhaltung der psychischen Gesundheit ist es mit zunehmendem Alter wichtig, gute Lebenskompetenzen zu haben, das heisst Fähigkeiten, die es den Menschen ermöglichen, die Herausforderungen und Aufgaben in ihrem Alltag erfolgreich zu bewältigen.

Chiara Maspero, was ändert sich Ihrer Erfahrung nach bei der Alltagsbewältigung mit fortschreitendem Alter?

Chiara Maspero: Die Bewältigung des Alltags wird durch die nachlassenden motorischen und sensorischen Fähigkeiten zunehmend schwieriger: Einkaufen oder Treppen steigen werden plötzlich zu einer Herausforderung. Die kognitiven Fertigkeiten lassen nach, zum Beispiel die Geschwindigkeit und Fähigkeit zur Informationsverarbeitung: Ältere Menschen brauchen länger, um ein Konzept zu verstehen und zu verarbeiten, beziehungsweise das Konzept muss auf eine einfachere Art und Weise erklärt werden, damit es verstanden wird. Weiter kann es im Alter aufgrund von Krankheiten oder Todesfällen im Familienkreis schwieriger werden, soziale Unterstützung zu finden.

Werden denn alle Fähigkeiten im Alter beeinträchtigt?

Nicht alle Fähigkeiten lassen im Alter nach. Einige bleiben stabil oder werden sogar besser. Ausserdem gibt es grosse Unterschiede hinsichtlich des Niveaus verschiedener Fähigkeiten und der sozialen Verbundenheit zwischen älteren Menschen. Dies ist auf den bisherigen Lebensstil und die Beziehungen, die man vor dem höheren Alter hatte, zurückzuführen.

Welche Kompetenzen sind angesichts dieser Herausforderungen zentral für den Erhalt der psychischen Gesundheit im Alter?  

Je mehr die körperliche und psychische Stärke sowie die sozialen Beziehungen nachlassen, desto wichtiger werden einige interne und externe Ressourcen. Die zentrale interne Ressource ist die Selbstwirksamkeit, das heisst die Fähigkeit, gewünschte Handlungen aufgrund eigener Kompetenzen auch in herausfordernden Situationen erfolgreich ausführen zu können. Dabei gilt es aber auch, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein.

Die sechs Lebenskompetenzen (WHO, 1997)

·         Kommunikationsfähigkeiten

·         Emotionsregulation

·         Selbstreflexion

·         Soziale Kompetenzen

·         Stressbewältigung

·         Entscheidungen treffen

Diese Kompetenzen sind für die Entwicklung und den Erhalt von zwei für die psychische Gesundheit wesentlichen Ressourcen zentral: der Selbstwirksamkeit als interner Ressource und der sozialen Unterstützung als externer Ressource.

Mit welchen Zielen wurde die Tagesstätte in Chiasso gegründet?

Das «Centro» wurde 1987 als Freizeitstätte für ältere Menschen ins Leben gerufen. Später ging die Struktur in den Zuständigkeitsbereich des Kantons über und wurde zu einer betreuten Begegnungsstätte für Menschen im Ruhestand. Ziele der Tagesstätte sind vor allem die Förderung der sozialen Beziehungen zwischen den Besucherinnen und Besuchern, dass sie körperlich und geistig aktiv bleiben, aber auch die Entlastung der betreuenden Angehörigen. Wir sind zwar keine therapeutische Einrichtung, aber unsere Mitarbeitenden sind Fachpersonen, die bei Bedarf eine gezielte Unterstützung anbieten können. Wir möchten die sozialen und kommunikativen Kompetenzen, die in den älteren Menschen noch vorhanden sind, ans Licht bringen. Die Besucherinnen und Besucher unserer Tagesstätte sind grösstenteils unabhängig und selbstständig. Und das ist offenbar eine der Stärken unseres Zentrums: Die Besucherinnen und Besucher können selbstständig bestimmen, ob und an welchen Aktivitäten sie teilnehmen wollen.

Welche Projekte und Aktivitäten werden in der Tagesstätte durchgeführt?

Wir haben ein Wochenprogramm mit einigen festen Terminen und einigen monatlich wechselnden Aktivitäten. Jede Aktivität hat ein – auch nur simples – Ziel. Nehmen wir zum Beispiel das Kartenspiel: Auf den ersten Blick mag Kartenspielen zwar trivial erscheinen, aber dabei können ältere Menschen ihre kognitiven und motorischen Fertigkeiten trainieren, und wir können sie dabei beobachten. Wir organisieren auch kurze Ausflüge oder Wanderungen zur Förderung von Geselligkeit und Bewegung. Nebst diesen partizipativen Aktivitäten organisieren wir auch Informationsveranstaltungen für die Besucherinnen und Besucher unserer Tagesstätte, an denen wir über Themen sprechen, die sie direkt betreffen.

Mit welchen Aktivitäten werden die sechs wichtigen Lebenskompetenzen für ältere Menschen gefördert?

Wir organisieren Aktivitäten, die auf Entspannung und Wohlbefinden ausgerichtet sind und somit einen Beitrag zur Förderung der Emotionsregulation und der Stressbewältigung leisten. Mit unserem Musiktherapieprogramm «Emosuoni», das wir 2022 auf ausdrücklichen Wunsch unserer Besucherinnen und Besucher eingeführt haben, richten wir den Fokus auf Gefühle und Emotionen. Begleitet von einem professionellen Musiker, werden die Teilnehmenden aufgefordert, ihre Gefühle durch das Singen zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich um ein wunderschönes Experiment, dessen Ziel ganz einfach ist: Die Teilnehmenden sollen – unabhängig von ihren Gesangskünsten – ihre Wahrnehmung und ihre Gefühle durch die Stimme ausdrücken. Die Teilnehmenden sagen, dass sie sich danach positiver und kompetenter fühlen.

Was sind weitere Beispiele für Aktivitäten?

Die «Erzählcafés» stärken die Selbstreflexion. Dieses Projekt wird von unseren Besucherinnen und Besuchern auch sehr geschätzt. Dabei werden in kleinen Gruppen von acht bis zehn Personen Diskussionen mit einer externen Moderation geführt. Die Themen werden jeweils von der Gruppe definiert und betreffen das Leben und die Erlebnisse der Teilnehmenden. Erfahrungen und Meinungen werden ausgetauscht, und dabei gewinnen die Teilnehmenden neue Erkenntnisse über die eigene Lebensgeschichte, lernen, einer Diskussion zu folgen, und trainieren ihre Kommunikationsfähigkeiten.

Wir bieten auch verschiedene Informationsveranstaltungen an. Hier sprechen wir über Themen, die unseren Besucherinnen und Besuchern helfen sollen, fundierte Entscheidungen für ihre Gesundheit zu treffen, zum Beispiel über die Bedeutung der Flüssigkeitszufuhr, die Risiken von Hitzewellen oder Sturzprävention.

«Wir möchten die sozialen und kommunikativen Kompetenzen, die in den älteren Menschen noch vorhanden sind, ans Licht bringen.»

Chiara Maspero, Leiterin der Tagesstätte in Chiasso (TI)

Welche Rolle haben Gemeinden im Hinblick auf die ältere Bevölkerung?

Die Gemeinden sind auch für ältere Menschen zuständig. Sie können Aktivitäten zur Förderung der vorhin erwähnten sechs Lebenskompetenzen bieten oder Begegnungs- und Tagesstätten unterstützen. Durch die Förderung der Lebenskompetenzen gelingt die Alltagsbewältigung auch im höheren Alter. Die Besucherinnen und Besucher haben so auch Gelegenheit, Kontakte zu pflegen oder neu aufzubauen. Wenn eine Gemeinde diese Aktivitäten unterstützt, profitiert die ganze Gemeinschaft davon: Die älteren Menschen bleiben länger selbstständig und können sich auch für Aktivitäten engagieren, die für die ganze Gesellschaft nützlich sind, zum Beispiel die Freiwilligenarbeit.

Chloé Jaunin
Gesundheitsförderung Schweiz
Projektleiterin Kantonale Aktionsprogramme