Der Laden von Monte mit Kaffeebar: Er ist zu einem wichtigen Treffpunkt im Ort geworden.

Geschulte Freiwillige bringen mehr Lebensqualität in Bergdörfer

15.06.2022
6 | 2022

Der 100-Seelen-Weiler Monte im Tessiner Muggiotal setzt ein Pilotprojekt für eine altersgerechte Dorfentwicklung um. Neben architektonischen Eingriffen spielt auch die Ausbildung von Tutoren eine wichtige Rolle.

Die starke Abwanderung aus den Alpentälern in die städtischen Zentren hat spürbare Folgen für die ältere Bevölkerung, die zurückbleibt: In ihrer Randregion schrumpft das Angebot der Grundversorgung, und das soziale Gefüge wird allmählich brüchig. Der kleine Ort Monte im Tessiner Muggiotal versucht mit einer innovativen Lösung, die Lebensqualität der älteren Bevölkerung zu erhalten und das Dorf für alle Generationen lebenswert zu machen.

Das Pilotprojekt wurde durch Ergebnisse einer Untersuchung des Schweizer Seniorenrates aus dem Jahr 2018/19 angestossen. Diese Studie zeigte auf, dass die mehrheitlich alte Bevölkerung in den von Abwanderung betroffenen Bergdörfern möglichst lange in ihrem Zuhause und in ihrer Region bleiben möchte und dass die Pflege von sozialen Kontakten für ihr psychisches Wohlbefinden und für den Lebenssinn entscheidend ist. Aus der Untersuchung sind zehn Empfehlungen entstanden, die vom Abbau architektonischer Barrieren bis zur Förderung neuartiger Kommunikationstechnologien reichen.

Handläufe, Bänke, Spielgeräte und Tische am selben Ort

Die Südtessiner Gemeinde Castel San Pietro hat die Empfehlungen aufgegriffen, um sie im Weiler Monte umzusetzen. Das Dörfchen liegt ziemlich isoliert auf knapp 700 Metern Höhe auf der rechten Seite des Muggiotals, des südlichsten Tals des Tessins. Rund 100 Personen sind hier noch ansässig, relativ gleichmässig verteilt auf alle Altersschichten. «Zuerst haben wir uns auf die architektonischen Aspekte konzentriert», sagt Giorgio Cereghetti, der als Gemeinderat das Projekt anfänglich gepusht hat. Konkret bedeutet dies, dass bauliche Eingriffe vorgenommen werden sollen, die den älteren Bewohnern das Leben erleichtern und gleichzeitig die Kommunikation fördern, beispielsweise die Installation von Handläufen entlang steiler Wege oder Treppen oder die Gestaltung von Plätzen mit Bänken und Spielgeräten für verschiedene Altersgruppen.

Die Arbeiten sind im Gang, wie sich im Mai bei einem Dorfrundgang mit den Architekten Rina Rolli und Tiziano Schürch zeigt. Die beiden zeichnen für die architektonischen Aspekte verantwortlich. An einem Platz wird ein Brunnen mit einem Bänkchen gebaut, an einer anderen Stelle werden Stufen seitlich einer Rampe verwirklicht, damit es Senioren leichter fällt, den Weg zum Friedhof zu gehen, vor dem ehemaligen Gemeindehaus wird ein Tisch gebaut, um gemeinsam Mahlzeiten einnehmen zu können. «Viele dieser architektonischen Eingriffe können banal erscheinen, aber sie sind es nicht», sagen die beiden Architekten. Am Ende gehe es darum, dass diese praktisch unsichtbar werden, so, als seien sie immer da gewesen.

Ziel der architektonischen Eingriffe ist es, neue Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, die insgesamt ein Zugehörigkeitsgefühl zum eigenen Dorf fördern. Die Architekten haben in vielen Gesprächen mit Senioren die Geschichte des Dorfes nachgezeichnet. Wichtige Punkte im Dorf werden nun Erklärungstafeln erhalten, die diese Geschichten erzählen und der kollektiven Erinnerung dienen.

Im Weiler gibts einen Laden, eine Osteria und eine Kaffeebar

Neue Begegnungsecken gesellen sich zu bereits vorhandenen Treffpunkten. Neben kleinen Plätzen gibt es bereits einen Dorfladen (La Butega) sowie eine Gastwirtschaft (Osteria La Montanara), was für ein Dorf dieser Grösse keine Selbstverständlichkeit ist. Im hinteren Teil des Dorfladens lädt eine kleine Kaffeebar zum Verweilen ein. Auch diese wird wohnlicher gestaltet. Die Präsenz von Laden und Osteria ist von grosser Bedeutung. «Wir sind hier in Monte auf fruchtbares Terrain gestossen», sagt Sozialvorsteherin Marika Codoni, die das Projekt von Giorgio Cereghetti übernommen hat und heute politisch leitet. Die Gemeinde zeigt sich im Übrigen bei der Unterstützung grosszügig: Im März 2021 wurde eine halbe Million Franken gesprochen, um die erste Hälfte der Empfehlungen umzusetzen. Von Vorteil ist natürlich, dass Castel San Pietro über ein gutes finanzielles Polster verfügt.

Viele wollen als freiwillige Tutoren mithelfen

Für das Projekt entscheidend ist die Ausbildung von sogenannten «community tutors». Es handelt sich um geschulte Freiwillige, die mit den Betagten in Kontakt treten und mithelfen, ein neues Nachbarschaftskonzept umzusetzen. Sie werden im Rahmen eines 50-stündigen Kurses ausgebildet. Unter anderem sollen sie auch helfen, Seniorinnen und Senioren bei der Verwendung von digitalen Medien zu unterstützen, etwa beim Schreiben einer E-Mail oder beim Abrufen von Internetseiten. Zwischen Ende April und Anfang Mai wurden zwei Informationsveranstaltungen in Castel San Pietro und Vacallo durchgeführt. «Wir befürchteten, dass niemand kommt, doch beide Male war der Saal voll», sagt Projektleiter Dieter Schürch mit sichtlicher Freude.

Darüber hinaus beinhaltet das Pilotprojekt Massnahmen zum Erhalt von öffentlichen Verkehrsmitteln und zum Errichten von modernen IT-Zugängen, sodass das Dorf trotz peripherer Lage auch für Familien mit Kindern attraktiv ist und intergenerationelle Kontakte leicht möglich werden. Eine Begleitgruppe in der Gemeinde verfolgt die Umsetzung des Projekts. Am 30. September und am 1. Oktober findet dann im Rahmen eines Dorffestes in Monte die offizielle Einweihung statt.

Bereits Ende Juni werden circa 15 Studierende der Universität Zürich, der Architekturakademie Mendrisio sowie der Höheren Architekturschule in Barcelona (UPC-ETSAB) das Projekt und die gesamte Region im Rahmen einer Summer School anschauen. «Die Architektur konzentriert sich heutzutage fast ausschliesslich auf die Gestaltung urbaner Räume, wir richten den Fokus auf Randgebiete und schwach besiedelte Regionen», sagt Tiziano Schürch, der selbst in Barcelona lehrt.

Kanton Uri will nachziehen

Das Projekt hat im Dezember 2021 den «Eulen-Award» erhalten, der alle zwei Jahre von der Stiftung «generationplus» vergeben wird. Ausgezeichnet werden innovative und praxisbezogene Projekte für ältere Menschen. Auch das Bundesamt für Raumplanung (ARE) unterstützt das Projekt finanziell im Rahmen seines Programms der Modellvorhaben für eine nachhaltige Raumentwicklung 2020–2024. «Das Modell wird wahrscheinlich bald auch in anderen Gemeinden angewendet. Dies würden wir sehr begrüssen», erklärt das ARE auf Anfrage. Weitere Gemeinden im Kanton Tessin und andere Kantone seien interessiert. Dies bestätigt auch Projektleiter Dieter Schürch: «Insbesondere der Kanton Uri will nun ein eigenes Modelldorf bestimmen.»