Gemeindeaffin: Martin Harris ist seit 2002 Geschäftsführer des Verbands der Gemeindepräsidien des Kantons Zürich. In seiner Laufbahn hat er auch für die Gemeinden Einsiedeln, Zollikon und Zürich gearbeitet.

«Ich sehe den Wert der Kleinräumigkeit»

13.12.2022
12 | 2022

20 Jahre lang leitete Dr. Martin Harris als Geschäftsführer die Geschicke des Verbands der Gemeindepräsidien des Kantons Zürich, kurz GPV ZH. In zwei Monaten geht er in Pension – Zeit für ein Abschiedsgespräch.

Dr. Martin Harris, der Kampf gegen die Lastenverschiebung vom Kanton hin zu den Gemeinden begleitet Sie quasi seit Ihrem Amtsantritt …

2003/04 lancierte unser Verband eine Initiative für einen «Gemeindeverträglichkeitsartikel». Da dieses Anliegen dann in die neue Kantonsverfassung aufgenommen wurde, ist nie darüber abgestimmt worden. Aber seither müssen die Aufgaben, die zu den Gemeinden verschoben werden, in ein Gesetz verpackt werden, sodass zwölf Zürcher Gemeinden oder die Städte Winterthur oder Zürich dagegen das Referendum ergreifen können.

Ein bemerkenswerter Erfolg war auch ein kürzlich ergangenes Bundesgerichtsurteil, das ebenfalls einer Lastenverschiebung zuungunsten der Zürcher Gemeinden einen Riegel geschoben hat. Worum geht es da genau?

Dabei ging es um Jugendliche, die fremdplatziert wurden – die sogenannten Versorgertaxen. Der Kanton hat dafür von den Gemeinden über Jahre hinweg ohne gesetzliche Grundlage Beiträge verlangt. Das hat das Bundesgericht den zwei klagenden Pilotgemeinden nun bestätigt: Der Kanton hat den Zürcher Gemeinden insgesamt rund 600 Millionen Franken zu viel verrechnet. Dieses Geld soll nun zurück an die Kommunen fliessen.

Wie ist sonst das Verhältnis zwischen dem Kanton und den 162 Zürcher Gemeinden?

Trotz dieser Episode denke ich nicht, dass es grössere Unstimmigkeiten zwischen den zwei Staatsebenen gibt. Der GPV ZH wird zu allen gemeinderelevanten Vernehmlassungen eingeladen und regelmässig vom Kantonsrat zu den die Gemeinden betreffenden Vorlagen angehört. Unser Grundanliegen ist, dass Gesetze so ausgearbeitet sind, dass sie auf Gemeindeebene auch umgesetzt werden können. Dafür müssen sich Fachleute aus der Praxis schon dort äussern können, wo das Fleisch am Knochen ist: in den vorbereitenden Arbeitsgruppen, also noch vor der Vernehmlassung. Das ist heute im Vergleich zu früher viel besser geworden. 

«Unser Grundanliegen ist, dass Gesetze so ausgearbeitet sind, dass sie auf Gemeindeebene auch umgesetzt werden können.»

Martin Harris, scheidender Geschäftsführer GPV ZH

Im Kanton gibt es grosse Städte wie Zürich und Winterthur, aber auch kleine Dörfer wie Volken oder Truttikon. Es liegt auf der Hand, dass deren Interessen nicht immer identisch sind. Wie schafft der GPV ZH diesen Spagat?

Möglichst allen gerecht zu werden, sehe ich tatsächlich als die Hauptaufgabe des GPV ZH an. Wir sind der Transmissionsriemen, der den grössten oder zumindest den kleinsten gemeinsamen Nenner für die Gemeinden finden soll. Aber natürlich gehen die Welten zwischen Stadt und Land manchmal auseinander, typischerweise bei den Themen Sozialpolitik oder Mobilität. Deshalb ist die Diskussion im Gremium so wichtig: Im Ausschuss ist jeder Bezirk vertreten, und in 90 oder 95 Prozent der Fälle finden wir auch eine gemeinsame Position, mit der alle leben können.

Hört man sich in den kommunalen Exekutiven um, so hört man oft, dass nicht nur finanziell, sondern auch administrativ und technisch immer mehr von den Gemeinden gefordert wird. Kann ein kleines Dorf mit Milizgemeinderat diesen Ansprüchen überhaupt noch gerecht werden?

Das ist die Herausforderung dieser Gemeinden. Und ich denke, dass die wenigen sehr kleinen Gemeinden im Kanton Zürich diese Herausforderung gut meistern. Aber es ist schon so: Kleine Gemeinden, die nicht fusionieren wollen, müssen innovative Lösungen finden. Im Unterland prüfen derzeit etwa vier Gemeinden, ob eine das Bauamt für alle führen kann, während die andere das Sozialamt übernimmt und so weiter.

Sie würden eher zu einer Fusion raten?

Nein – oder besser gesagt: Ich sehe den Wert der Kleinräumigkeit. Dank der Gemeindeautonomie können auch kleinere Strukturen individuelle und einfache Lösungen finden. Das hat sich etwa während der Pandemie gezeigt. Man sprach zwar oft vom Flickenteppich. Dieser hatte aber auch den Vorteil, dass alle etwas ausprobieren konnten. Hätten alle dasselbe tun müssen, hätten zum Beispiel die Bündner nie ihr eigenes Testkonzept entwickelt, das sich dann schweizweit durchgesetzt hat. Für mich muss das im Prinzip auch für die Gemeinden gelten: Sie sollten ihre Angelegenheiten grundsätzlich individuell angepasst regeln können.

Schlussfrage: In zwei Monaten sind Sie Pensionär. Was tut Martin Harris dann?

Ich bin von Haus aus Historiker. Von daher möchte ich das Familienarchiv aufarbeiten und noch etwas reisen. Das Wichtigste ist aber, gesund zu bleiben. Alles andere ergibt sich …

Dank und Willkomm

Gerne nutze ich das Interview mit Martin Harris, ihm zu danken und ihn – mindestens in dieser Zeitschrift – zu verabschieden. Zuerst als Mitglied und später als Präsident des GPV ZH habe ich Martin Harris kennen und sehr schätzen gelernt. Gemeinsam ist es uns gelungen, nicht nur die zunehmende Aufgabenlast zu bewältigen, sondern auch den Verband zu einem wichtigen Ansprechpartner für Regierung und Interessengruppen zu entwickeln. So konnten wir für die Gemeinden und Städte einiges erreichen. Mit seiner ruhigen und verlässlichen Art war er mir wichtige Unterstützung und Ansprechperson, und in den vergangenen Jahren mit Krisensituationen in unterschiedlicher Ausprägung konnten wir gemeinsam die anstehenden Herausforderungen bewältigen. Dafür möchte ich Martin Harris herzlich danken und wünsche ihm auf seinem weiteren Lebensweg alles Gute.

Die Nachfolge von Martin Harris wird Frau Ricarda Zurbuchen antreten. Die jetzige Leiterin der Parlaments- und Kanzleidienste des Kantons Thurgau wechselt per 1. März 2023 zum GPV ZH. Ich bin überzeugt, dass der Leitende Ausschuss sowie die Stadt- und Gemeindepräsidien des Kantons Zürich eine Geschäftsführerin bekommen, die bestens verankert ist und auf die sie sich verlassen können. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und heisse sie auf diesem Weg herzlich willkommen.

Jörg Kündig, Präsident Verband Gemeindepräsidien Kanton Zürich, Vizepräsident Schweizerischer Gemeindeverband, Gemeindepräsident Gossau (ZH)

Fabio Pacozzi
Leiter Kommunikation SGV