Lichtensteig macht vieles richtig
Nicht erst seit dem Gewinn des Wakkerpreises ist Lichtensteig (SG) Beispiel für eine vorbildhafte Gemeindeentwicklung. Besuch in einem Städtchen, dessen Bewohnerinnen und Bewohner ihre Zukunft in die Hand nehmen.
Lichtensteig (SG) präsentiert sich an diesem strahlenden Sommernachmittag von seiner besten Seite. Ein Fischer steht in der Thur und wirft seine Angelrute aus, auf der Wiese am Ufer läuten junge Menschen den Feierabend ein. Über ihnen thronen die blendend weissen Fassaden der stolzen Toggenburger Städtli-Häuser. In den Gassen Lichtensteigs schieben Männer und Frauen in Arbeitskleidung grosse Kisten auf Rädern umher und stellen Zelte auf; sie bereiten alles für die Jazztage vor. Die grosse Bühne steht mitten in der Hauptgasse.
Pragmatische Lösungen
Am Ende der Hauptgasse kurze Verwirrung: Da steht ein stattliches Haus, angeschrieben mit Rathaus. Doch die Stadtverwaltung befindet sich nicht darin, sondern im Nachbargebäude mit dem grossen UBS-Logo. Dort klärt Stadtpräsident Mathias Müller sogleich auf. Das Rathaus war ursprünglich tatsächlich der Sitz der Stadtverwaltung. «Vor einigen Jahren hätten wir es komplett sanieren müssen, und weil für öffentliche Gebäude höhere Auflagen gelten und das Haus denkmalgeschützt ist, wäre das mit über vier Millionen Franken sehr teuer geworden», führt er aus. Die Stadtverwaltung beschloss kurzerhand, das ehemalige UBS-Gebäude daneben zu kaufen – mit 2,9 Millionen Franken war das deutlich günstiger, und es war bereits mit Büroräumlichkeiten zweckmässig eingerichtet. Das Rathaus wurde zum Rathaus für Kultur mit Künstlerateliers, einem Restaurant und einem grossen Saal.
Es ist ein exemplarisches Beispiel dafür, wie es Lichtensteig immer wieder gelingt, kreative und pragmatische Lösungen zu finden. Um zu erklären, wie Lichtensteig das macht, holt Mathias Müller weit aus, während er durch einen Hinterhof schlüpft und schliesslich vor einem Haus stehen bleibt, über dessen Eingang die Jahreszahl 1609 eingraviert ist. «Lichtensteig war ab dem Mittelalter ein wichtiges regionales Zentrum im Toggenburg», erklärt er. Der Ort erhielt das Stadtrecht – deshalb nennt sich Lichtensteig noch heute Stadt, obwohl die Einwohnerzahl von rund 2000 eher auf ein Dorf hindeutet. Während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert siedelten sich Textilfabriken an, und Lichtensteig blieb wichtig für die Region.
Lichtensteig wird wachgerüttelt
Doch in den 1990ern begann der Niedergang der Industrie. Dienstleistungsbetriebe wie Banken schlossen, und die Läden im Städtchen rentierten nicht mehr. Die Menschen zogen weg, die Steuereinnahmen brachen ein, es war kein Geld mehr da, um die Infrastrukturen zu erneuern. Mathias Müller geht ein paar Schritte weiter und bleibt bei einer unscheinbaren Hausecke unweit der Hauptgasse stehen. Er zeigt auf eine hölzerne Luke im Boden, die den Eingang zu einem Gewölbekeller markiert. Ende der 2000er-Jahre wurde ein Gesuch eingereicht, um in dem Gewölbekeller ein Rotlichtgewerbe einzurichten. «Das hat Lichtensteig wachgerüttelt», erzählt der Stadtpräsident. Diese Entwicklung wollte das Städtchen nicht – und es begann, um seine Zukunft zu kämpfen. Die Gemeinde zog das Netzwerk Altstadt zurate, das bereits in Burgdorf erfolgreich für eine Belebung der Altstadt gesorgt hatte.
Ab 2013 startete ein partizipativer Prozess, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner aktiv in die Weiterentwicklung des Städtchens einbezogen wurden. «Uns als Gemeinde war von Anfang an klar, dass wir zu wenig Ressourcen haben, um einen positiven Wandel allein herbeizuführen», sagt Mathias Müller, der bereits zu Beginn des Prozesses als Ratsschreiber dabei war. «Wir wollten konkrete Projekte umsetzen, die von der Bevölkerung getragen werden.»
Mathias Müller ist überzeugt: In jeder Gemeinde gibt es Menschen, die gute Ideen haben, etwas anreissen möchten. Diese gilt es zu mobilisieren. Lichtensteig nennt diese Menschen Macherinnen und Macher und hat ihnen ein ganzes Zentrum in der alten Post gewidmet, wo jetzt ein Co-Working-Space existiert. Die Macherinnen und Macher haben unten an der Thur einen Ort zum Zusammenkommen geschaffen, mit Liegewiese, einer kleinen Pop-up-Strandbar und Weinbergen. Etwas weiter thurabwärts wird ein stillgelegtes Fabrikareal gerade mit kreativen Nutzungen und Handwerksbetrieben neu belebt. «Wir haben bei diesen Projekten den Anstoss gegeben, jetzt entwickeln sie sich von allein weiter. Das ist unser Ziel», so Mathias Müller.
«Wichtig ist, Konzepte nicht in der Schublade verschwinden zu lassen, sondern sie umzusetzen und eine langfristige Entwicklung sicherzustellen.»
Motor Digitalisierung
Die Digitalisierung hat vieles erleichtert – Stichwort Co-Working-Space, der davon profitiert, dass Arbeitnehmende nicht mehr an einen fixen Arbeitsplatz gebunden sind. Oder Läden in der Altstadt, die auch ohne Personal funktionieren. Mathias Müller zeigt in der Hauptgasse, wie das geht. Neben dem Eingang zu einem kleinen Geschäft legt er seine ID in ein Holzkästchen. Der Bildschirm am Kästchen leuchtet grün, das Türschloss geht mit einem Schnappen auf. Drinnen gibts unzählige Sorten Bier zu kaufen, ausserdem liegt Käse in einem Kühlschrank, und weitere regionale Spezialitäten befinden sich in einem Regal. Bezahlt wird an einer digitalen Kasse, Zutritt hat nur, wer über 18 Jahre alt ist – deshalb die ID als Zutrittskontrolle. Das Konzept sei im Co-Working-Space entstanden, als ein Bierliebhaber und ein Informatiker zusammensassen, erzählt Müller. Vor Kurzem eröffnete ein Käseladen, «Chääswelt Toggenburg», der nach demselben Konzept funktioniert. «So können wir Leerstände bekämpfen. Ein Laden mit Personal rentiert nicht – aber das funktioniert», sagt Mathias Müller. Diebstähle sind dank Überwachungskameras kein Thema.
Die Leerstände bleiben denn auch eine Herausforderung für Lichtensteig. Vor Kurzem schloss ein Möbelhaus an der Hauptgasse. Ein Pop-up-Store, der innovative Kulinarikprodukte präsentiert, zum Beispiel Insektensnacks, belegt derzeit das Erdgeschoss. Bald soll das Gebäude umgebaut werden, und das benachbarte Toggenburger Museum wird drei Etagen beziehen, in den übrigen Stockwerken entstehen Wohnungen. «Wichtig ist, Konzepte nicht in der Schublade verschwinden zu lassen, sondern sie umzusetzen und eine langfristige Entwicklung sicherzustellen. Denn die Situation bleibt herausfordernd», sagt Mathias Müller.
Diverse Preise als Anerkennung
Durch die partizipativen Projekte gelang es Lichtensteig, wieder Leben ins Städtli zu bringen – die Einwohnerzahlen steigen und damit auch die Steuereinnahmen. Die Gemeinde hat wieder Ressourcen, um dringend notwendige Sanierungen von Infrastrukturen vorzunehmen. Für seinen Innovationsgeist hat Lichtensteig in den letzten Jahren zahlreiche Preise gewonnen, zuletzt den Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes. «Der Wakkerpreis ist eine Anerkennung für ganz viele Menschen, die sich für dieses Städtchen engagieren», sagt Mathias Müller.
Was ist das Geheimnis von Lichtensteig, wie gelang der positive Wandel? Mathias Müller nennt vier Punkte: das proaktive Angehen von Problemen, das Hinzuziehen von externer Expertise, das tatsächliche Umsetzen von Konzepten – und den Einbezug der Bevölkerung. «Bei Partizipation ist es enorm wichtig, diese professionell aufzugleisen, die Regeln transparent zu machen und den Ansatz in den unterschiedlichsten Gebieten konsequent umzusetzen. Zentral ist es, den Menschen Vertrauen zu schenken und ihnen Freiräume zu gewähren», fasst Mathias Müller zusammen. Er fügt an: «Ich hätte manche Projekte vielleicht anders umgesetzt – aber es sind ja nicht meine Projekte, sondern die von den Menschen, die hier leben.» Mathias Müller sagts, und setzt sich zu den Helfern der Jazztage, die sich mittlerweile in der Gasse auf Holzbänke gesetzt haben und sich ein Feierabendbier gönnen.