Es gibt zahlreiche Initiativen zum Thema Nachhaltigkeit – doch nicht immer gelingt es ihnen, viele Menschen zum Mitmachen zu bewegen.

Nachhaltigkeit? Wen interessierts?

06.10.2022
10 | 2022

Damit partizipative Projekte im Bereich Nachhaltigkeit gelingen, braucht es mehr als eine gute Idee. Forschende der ZHAW haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt und beleuchten die Rolle der Gemeinden.

Eine nachhaltige lokale Entwicklung umfasst alle Lebensbereiche, letztlich sind somit alle betroffen, und nachhaltige Entwicklung ist nur mit breiter Beteiligung möglich. Damit sind eigentlich gute Voraussetzungen für partizipative Prozesse und Projekte gegeben. Gleichwohl können Projekte nachhaltiger Entwicklung oftmals nicht die nötige Aufmerksamkeit und vor allem nicht die aktive Mitarbeit der Bevölkerung erreichen. Warum fühlt sich zumeist nur eine bestimmte Gruppe von Personen angesprochen? Wie kann eine breitere Beteiligung erreicht werden? Mit diesen Fragen haben sich Forschende der ZHAW in einem durch die Internationale Bodenseehochschule geförderten Forschungsprojekt in verschiedenen Städten der Bodenseeregion auseinandergesetzt.

Viele Initiativen, kaum Zusammenarbeit

Der Blick auf die unterschiedlich gelagerten Projekte nachhaltiger Entwicklung macht deutlich: Eine nachhaltige Entwicklung kann weder top-down durch lokale Politik und Verwaltung verordnet noch bottom-up durch einzelne Initiativen aus der Bevölkerung umgesetzt werden.

So gibt es beispielsweise in Romanshorn ein breites Spektrum von Initiativen und Projekten. Schon seit 2010 ist Romanshorn Energiestadt, die Klimacharta wurde ratifiziert, in unterschiedlicher Weise unterstützt die Stadt Energiesparmassnahmen, ökologische Zielstellungen spielen eine wichtige Rolle bei kommunalen Entscheidungen, auch die Verwaltungsstrukturen werden neuen Anforderungen angepasst, Wünsche der Bevölkerung werden mittels Online-Tool erfasst und anderes mehr. Daneben gibt es unterschiedliche zivilgesellschaftliche Projekte und Initiativen, die sich der nachhaltigen Entwicklung verschrieben haben. Diese werden zumeist durch wenige sehr engagierte Personen mit viel Herzblut getragen, welche sich jedoch oftmals als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer sehen. Eine Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Projekten oder auch mit der Stadt gibt es kaum.

Die Aufmerksamkeit der Forschenden wurde durch eine Initiative von Schülerinnen und Schülern zur Ausrufung des Klimanotstands in Romanshorn geweckt. Sie hatten sich intensiv mit den Folgen der aktuellen Lebensweise für das Klima auseinandergesetzt, einen umfassenden Katalog lokaler Klimaschutzmassnahmen erarbeitet, die erforderlichen Unterschriften gesammelt und die Petition eingereicht.

Der Stadtrat diskutierte lange und intensiv und lehnte die Petition schliesslich ab. Gründe dafür waren neben schon stattfindenden Aktivitäten zum Klimaschutz hauptsächlich die Situation zu Beginn der Corona-Pandemie, die den neu gewählten Stadtrat vor grosse Herausforderungen stellte. Dies ist objektiv nachvollziehbar, löste jedoch bei den jungen Leuten gemäss ihren eigenen Aussagen grosse Frustration in Bezug auf ihr politisches Engagement aus, auf das die Stadt ganz dringend angewiesen wäre. Gleichwohl hat die Petition der Schülerinnen und Schüler vor allem im Stadtrat viel bewegt. Sie ist beispielswiese mit dafür verantwortlich, dass die Stadt die Klimacharta ratifiziert hat und ab kommendem Jahr die Verwaltungsstelle eines Klimabeauftragten neu einrichtet.

Nicht bereit für breiten Diskurs

Die Situation in den anderen untersuchten Städten und Gemeinden unterscheidet sich kaum; Romanshorn ist in diesem Sinne (fast) überall. Es zeigte sich: Die Engagierten in den Projekten sind oftmals (zu) sehr auf die Umsetzung ihrer Ideen konzentriert und kaum für einen breiten Diskurs bereit. Wirkliche Partizipation ist aber nur zu erzielen, wenn durch die Mitarbeit auch Einfluss auf das Ergebnis genommen werden kann.

So ist es beispielsweise mühsam, Mitstreiterinnen und Mitstreiter für ein feststehendes Projekt, zum Beispiel für die Vermietung eines Cargo-Bikes oder die Beteiligung an einer Kleidertauschbörse, zu gewinnen. Die Menschen können dieses Angebot annehmen und sich im vorgesehenen Rahmen einbringen oder eben nicht. Eine offenere Beteiligung, die inhaltliche Entscheidungsspielräume lässt, zum Beispiel eine Diskussion über nachhaltige Mobilität zulässt und andere Ideen, wie das Teilen von Autos oder Bringdienste als Taschengeldjobs mit einbezieht, würde eine breitere Beteiligung ermöglichen. Alle Initiativen, seien sie durch die Stadt initiiert, durch aktive Bürgerinnen und Bürger oder Vereine, stehen somit vor der Herausforderung, sich inhaltlich zu einem früheren Zeitpunkt zu öffnen.

Möglichst viele mit einbeziehen

Für eine nachhaltige Entwicklung geht es ausserdem darum, Menschen aller sozialen Schichten, Milieus, kulturellen Prägungen, Altersgruppen nicht nur anzusprechen, sondern echtes Interesse an anderen Lebenszusammenhängen zu zeigen. Dies beinhaltet, Diskussionen um die «richtige» Lösung nicht nur notgedrungen zuzulassen, sondern andere Ansichten und Erfahrungen als Bereicherung für das eigene Projekt anzuerkennen. Dies kann anstrengend sein, vielleicht braucht es Umwege, eine eigene Idee kann selten eins zu eins umgesetzt werden; neue Mitgestalterinnen und Mitgestalter können aber das Projekt in ihre eigenen Netzwerke tragen und so weitere Ressourcen mobilisieren.

Zudem braucht es vor Ort einen breiten und stetigen Diskurs über Ziele der Stadt- und der Gemeindeentwicklung und über Wege der Zielerreichung. Wenn eigene Ideen innerhalb einer solchen Diskussions- und Beteiligungskultur abgelehnt werden, ist die Chance grösser, dass dennoch Engagement in anderen Projekten oder Initiativen aufgenommen werden kann.

Den Rahmen, der die Vielfalt der lokalen Initiativen und Projekte einbezieht, kann nur die «Stadt» oder die «Gemeinde» bereitstellen. Insgesamt und bei allen Beteiligten braucht es einen Kulturwandel und die Einsicht, dass Partizipation nicht Verlust von Macht bedeutet, sondern vielmehr eine Chance ist, die Entwicklung oder das eigene Projekt auf eine breitere Basis zu stellen.

Anke Kaschlik
Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe
Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW)
Tobias Nägeli
Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe
Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW)