Kindertagesstätten sind auch Standortfaktoren für Gemeinden.

Pionierprojekt: Mehr Freiheit bei der Kita-Wahl

12.03.2023
3 l 2023

In der Region Wil spannen Gemeinden bei der Kinderbetreuung zusammen. Eltern können Kitas neu auch ausserhalb ihres Wohnorts nutzen. Damit soll nicht nur das Angebot erhöht, sondern auch dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist für viele Eltern eine grosse Herausforderung. Kindertagesstätten können da eine enorme Entlastung sein. Allerdings ist es so, dass vor allem kleinere Gemeinden auf dem Land kein solches Angebot haben. Und bei jenen Gemeinden, die Kindertagesstätten anbieten, haben Eltern meist keine Wahl, in welche sie ihr Kind bringen wollen. Denn einerseits sind die Plätze rar, andererseits subventionieren viele Gemeinde nur die Kindertagesstätten auf eigenem Gebiet. Zudem ist diese finanzielle Unterstützung oft von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich.

Das Wirtschaftsportal Ost (WPO) – eine Netzwerkplattform für Wirtschaft und Politik in der Region Wil – hat das Problem erkannt und im vergangenen November ein regionales, kantonsübergreifendes Kita-Projekt lanciert. Dieses soll das Angebot an Kindertagesstätten im Raum Wil erhöhen und gleichzeitig den berufstätigen Eltern mehr Wahlfreiheit geben. «Unser Ziel ist es, dass jede Kindertagesstätte in der Region unkompliziert genutzt werden kann. Egal, wo die Familie wohnt oder die Eltern arbeiten», sagt Roman Habrik. Der Gemeindepräsident von Kirchberg leitete die WPO-interne Arbeitsgruppe, die das Projekt entwickelte. «Bei der heutigen Mobilität und dem Fachkräftemangel schränkt es zu sehr ein, wenn die Gemeinden nur jene Kindertagesstätten unterstützen, die sich auf dem eigenen Gemeindegebiet befinden.»

«Bei der heutigen Mobilität und dem Fachkräftemangel schränkt es zu sehr ein, wenn die Gemeinden nur jene Kitas unterstützen, die sich auf dem eigenen Gemeindegebiet befinden.»

Roman Habrik, Gemeindepräsident Kirchberg (SG)

8 von 23 Gemeinden machen mit

In mehreren Workshops mit Vertreterinnen und Vertretern von Gemeinden, Kindertagesstätten und Unternehmen war die Problematik diskutiert und nach einer Lösung gesucht worden. «Eine Herausforderung dabei war, dass die Gemeinden und die Kindertagesstätten zum Teil sehr unterschiedliche Tarife, Leistungsvereinbarungen und Subventionen haben», so Habrik. Zudem war es der WPO wichtig, dass das Projekt kantonsübergreifend funktioniert, da dem Netzwerk sowohl Thurgauer als auch St. Galler Gemeinden angehören. Alle 23 Mitgliedgemeinden des WPO und 16 Kindertagesstätten wurden angefragt, ob sie beim regionalen Kita-Projekt mitmachten. Acht Gemeinden von Aadorf über Jonschwil bis Wil und elf Kindertagesstätten sagten sofort zu. Weitere Gemeinden dürften im Laufe dieses Jahres folgen, da einige das entsprechende Reglement, das auch die Höhe des Subventionsbeitrags für Kindertagesstätten ausserhalb der Gemeinde beinhaltet, erst noch anpassen müssen oder den Start des neuen Schuljahrs abwarten wollen.

«Eine gute und flexible Fremdbetreuung hilft, Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, und macht unsere Region als Arbeits- und Lebensort attraktiver.»

Robert Stadler, Geschäftsführer Wirtschaftsportal Ost

Neu bekommen die Eltern, die für ihr Kind eine Kindertagesstätte ausserhalb der Wohngemeinde nutzen, den finanziellen Zustupf direkt, um so den Tarif in der Kindertagesstätte ihrer Wahl reduzieren zu können. Bisher war es in der Regel so, dass eine Gemeinde diese Unterstützungsbeiträge ausschliesslich der Kindertagesstätten vor Ort überwiesen und damit die Tarife für die Eltern indirekt vergünstigt hat. «Mit diesem Wechsel bekommen die Eltern mehr Flexibilität bei der Wahl der Kindertagesstätte», sagt Roman Habrik, «da sie auch in Kitas ausserhalb der Wohngemeinde von günstigeren Tarifen profitieren können.»

Geregelt ist dies in einer Vereinbarung, welche die einzelnen Gemeinden beziehungsweise Kindertagesstätten mit dem WPO abgeschlossen haben: Auf der einen Seite gewähren die Gemeinden ihren Einwohnerinnen und Einwohnern unabhängig vom Standort der Kindertagesstätte Subventionsbeiträge. Auf der anderen Seite verpflichten sich die Kindertagesstätten, Kinder aus allen Gemeinden, die beim regionalen Kita-Projekt mitmachen, aufzunehmen, solange es genügend Platz hat. Bei Gemeinden, die weiterhin und parallel zum WPO-Modell noch Leistungsvereinbarungen direkt mit den Kindertagesstätten haben, wird nach wie vor über die Kita abgerechnet.

Auch die Wirtschaft profitiert

Aber nicht nur die Eltern, auch die Kindertagesstätten selbst profitieren vom Projekt. «Für die teilnehmenden Kitas vergrössert sich der Markt, da ihr Angebot auch für Kundinnen und Kunden aus anderen Gemeinden interessant wird», sagt Andreas Bühler, Vizepräsident des Vereins Globi Kinderkrippen Schweiz. Der Verein betreibt mehrere Kindertagesstätten in der Ostschweiz, unter anderem in Oberbüren (SG). Mit der regionalen Finanzierungslösung könnten das Angebot und die Nachfrage von Betreuungsplätzen noch besser aufeinander abgestimmt werden. Bühler freut sich, dass mit dem regionalen Projekt das «Gärtlidenken» etwas aufgebrochen werden konnte und eine über die Gemeinde- und Kantonsgrenze hinweg funktionierende Lösung gefunden wurde. «In der Schweiz ist das ziemlich einzigartig und hat Pioniercharakter.» Er hofft, dass sich in den nächsten Monaten noch mehr Gemeinden aus der Region anschliessen werden. Denn die Nachfrage nach Kita-Plätzen werde weiter steigen, so Bühler.

«Für die teilnehmenden Kitas vergrössert sich der Markt, da ihr Angebot auch für Kundinnen und Kunden aus anderen Gemeinden interessant wird.»

Andreas Bühler, Vizepräsident des Vereins Globi Kinderkrippen Schweiz

Vom regionalen Kita-Modell dürfte auch die Wirtschaft profitieren, denn der Fachkräftemangel wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Gemäss einer HSG-Studie werden bis 2035 auf dem Ostschweizer Arbeitsmarkt 60 000 Personen fehlen. Es brauche deshalb Massnahmen, um das Potenzial an Arbeitskräften besser zu nutzen, ist WPO-Geschäftsführer Robert Stadler überzeugt. Das regionale Kita-Modell ist eine davon. «Eine gute und flexible Fremdbetreuung hilft, Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, und macht unsere Region als Arbeits- und Lebensort attraktiver», sagt Stadler.

Das Wirtschaftsportal Ost

Das Wirtschaftsportal Ost ist eine Plattform, um die Wirtschaft und Politik in der Arbeits- und Lebensregion Wil besser zu vernetzen. Der Verein zählt über 350 Mitglieder; 23 Gemeinden aus den Kantonen St. Gallen und Thurgau sowie mehr als 330 Unternehmen. Er organisiert nicht nur Anlässe zur Vernetzung innerhalb der Region, sondern lanciert auch Projekte zur Stärkung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Marion Loher
Freie Mitarbeiterin