Im Kanton Genf sollen alle an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen können.

Politische Rechte für alle im Kanton Genf

05.05.2024
5 | 2024

Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung haben im Kanton Genf politische Rechte. Als erster Kanton setzt Genf damit eine Forderung der UNO-Behindertenkonvention (BRK) um. Aus Sicht des Genfer Anwalts Cyril Mizrahi können auch Personen unter einer umfassenden Beistandschaft eine politische Meinung haben. Andere Staaten kennen das Wahlrecht für diese Personengruppe bereits, so Frankreich, Italien, Österreich, Grossbritannien, die Niederlande, Schweden, Spanien und Kanada.

Im Kanton Genf können Personen mit eingeschränkter Urteilsfähigkeit seit 2021 über kantonale und kommunale Vorlagen abstimmen. Die Bevölkerung hatte im November 2020 mit grosser Mehrheit eine entsprechende Verfassungsänderung angenommen. Betroffen sind gut 1600 Personen mit einer umfassenden Beistandschaft. Als erster und bisher einziger Kanton setzt Genf damit Artikel 29 der UNO-Behindertenkonvention (BRK) um, der die Schweiz 2014 beigetreten ist. In weiteren Kantonen wie Neuenburg, Waadt, Wallis, Luzern, Solothurn und Zürich gibt es ähnliche Vorstösse. Die BRK verpflichtet Mitgliedstaaten, allen Menschen mit Behinderungen politische Rechte zu gewähren. «Auch Personen mit einer geistigen Einschränkung können eine politische Meinung haben», erklärt der Genfer Anwalt und SP-Grossrat Cyril Mizrahi, der für den Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap arbeitet.

Für das Durchführen von Abstimmungen ist in Genf der Kanton zuständig. «Wir hatten festgestellt, dass wir für Personen mit kognitiven Schwierigkeiten die Erläuterungen zu den Abstimmungen anpassen mussten», sagte Valérie Vulliez-Boget, stellvertretende Generalsekretärin der Genfer Staatskanzlei. Sie ist zuständig für die politischen Rechte und Leiterin des Projekts für Abstimmungen von Personen mit Behinderungen. Der Kanton beauftragte ein Unternehmen mit der Übersetzung der Abstimmungserklärungen «Comment voter» in Leichte Sprache, die sich durch einfache, klare Sätze auszeichnet. Seit Juni 2021 stehen dazu bei Abstimmungen jeweils ein Video und ein PDF-Dokument auf der kantonalen Website zur Verfügung.

«Auch Personen mit einer geistigen Einschränkung können eine politische Meinung haben.»

Cyril Mizrahi, Anwalt und Genfer Grossrat

Wählerinnen und Wähler

Keine Erläuterungen in Leichter Sprache macht der Kanton Genf jedoch zum Inhalt von Abstimmungen. «Wir haben dies getestet, mit der Vereinfachung besteht jedoch ein zu grosses Risiko der Subjektivität», sagt Vulliez-Boget. Der Bund teile diese Analyse. Für Mizrahi ist das Fehlen einer Broschüre in Leichter Sprache unverständlich und inakzeptabel. Die BRK verlange entsprechende Informationen für Personen mit einem intellektuellen Defizit. Die Kantone St. Gallen und Tessin hätten dies problemlos eingeführt.

Wie viele der Menschen mit Beistandschaft abstimmen, überprüft der Kanton Genf ebenso wenig wie die Teilnahme anderer Bevölkerungsgruppen. «Für uns handelt es sich um Wählerinnen und Wähler», erklärt Vulliez-Boget. Ausser den Personen mit Beistandschaft konnten Menschen mit Behinderungen schon immer abstimmen oder wählen. Für Blinde und Sehbehinderte subventioniert der Kanton Genf seit 2012 Podcasts. Für Taube und Schwerhörige produziert er zu kantonalen Vorlagen seit Juni 2023 Videos in Gebärdensprache und mit Untertiteln.

E-Voting fördert Gleichstellung

Ab Juni 2026 will der Kanton Genf die elektronische Stimmabgabe wieder einführen, die national von 2020 bis 2022 eingestellt worden war. «Mit dem E-Voting können Blinde autonom abstimmen, das ist der Vorteil», führt Vulliez-Boget aus. Ebenso erleichtere es Menschen mit einer körperlichen Behinderung, autonom zu wählen. Und es vereinfache das Abstimmen für Auslandschweizer. «Die elektronische Stimmabgabe stellt alle auf die gleiche Ebene.»

Die Gegner des Stimmrechts für Menschen mit geistigen Behinderungen hatten vor der Genfer Abstimmung im November 2020 argumentiert, dass die Familien womöglich für die Betroffenen abstimmen. Doch dies kann laut Vulliez-Boget für alle Wähler zutreffen. Mit der brieflichen Abstimmung werde das «Family voting» akzeptiert. Mizrahi betont, das politische Verständnis aller anderen Bevölkerungsgruppen werde auch nicht geprüft.

«Die elektronische Stimmabgabe stellt alle auf die gleiche Ebene.»

Valérie Vulliez-Boget, stellvertretende Generalsekretärin der Genfer Staatskanzlei

Anfangsschwierigkeiten

Zu Beginn ihres neuen Stimmrechts erhielten viele Menschen mit Beistandschaft die Abstimmungsunterlagen zu spät. Denn laut Schweizer Zivilrecht befindet sich ihr Wohnsitz bei der Institution, die für sie zuständig ist, im Kanton Genf das Gericht für den Schutz von Erwachsenen und Kindern (TPAE). Die Unterlagen wurden daher dem Gericht zugestellt. Dieses schickte sie an das Amt für Erwachsenenschutz oder an private Vormunde, die sie an die Adresse der Betroffenen weiterleiteten. So trafen die Unterlagen manchmal erst nach der Abstimmung ein. Erst seit Marjorie de Chastonay, Grossrätin der Grünen und Präsidentin des Genfer Dachverbandes von Behindertenorganisationen Fégaph, im Juni 2023 eine dringliche Anfrage einreichte, werden die Unterlagen den Betroffenen direkt geschickt.

Kritik am Schweizer Stimmrechtsausschluss

Der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK-Ausschuss) prüft die Einhaltung der UNO-Konvention durch die Mitgliedstaaten. Im Frühling 2022 forderte er die Schweiz auf, alle Bestimmungen aufzuheben, durch die Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen das Stimmrecht verweigert wird. Im Oktober 2023 hielt der Bundesrat fest, der in der Bundesverfassung verankerte Stimmrechtsausschluss sei mit der BRK unvereinbar und müsse geändert werden.

Annegret Mathari
Freie Mitarbeiterin