Blick in die Mehrgenerationensiedlung Widenbüel mit Gemeindetreffpunkt in Mönchaltdorf (ZH). Für den geplanten Kauf der zentrumsnahen gemeindeeigenen Baulandparzelle durch eine Genossenschaft machte die Gemeinde konzeptionelle Auflagen.

Träume einer imaginären Gemeindepräsidentin

20.05.2021
5 | 2021

Margrit Hugentobler befasst sich seit Langem beruflich mit dem Thema Wohnen im Alter. In einem Beitrag für die «Schweizer Gemeinde» wechselt sie die Rolle: Was würde sie tun, wenn sie plötzlich Gemeindepräsidentin wäre?

«Darüber zu fantasieren, was man in einem anderen Beruf, einer andern Rolle tun könnte,  ist ein attraktives Gedankenspiel, wenn wir älter und erfahrener sind. Wohnen im Alter: Dem Thema kann ich mich nicht entziehen. Es ist allgegenwärtig – und delegieren lässt es sich auch nicht an unsere Altersbeauftragte, an den Spitex-Verein oder an die Leitung unseres Alters- und Pflegeheims. Wir brauchen ein zukunftsorientiertes, integratives Konzept, das vom Gemeinderat, von der Verwaltung, weiteren Akteuren – und natürlich auch von der Gemeindebevölkerung – getragen wird. Ein erster Grundsatz, den ich mir hinter die Ohren schreiben möchte: die soziale, räumliche und finanzielle Planung integriert angehen!

Eine Vision in drei Punkten

Warum nicht eine Vision entwickeln? Auch eine Gemeindepräsidentin darf Visionen haben (und muss deshalb nicht gleich zum Psychiater!) Gemäss dem oben genannten Planungsprinzip könnte die Vision drei Bereiche umfassen:

 

Sozial: Die Menschen in meiner Gemeinde wissen: Hier kann ich so lange wie möglich autonom und selbständig leben. Ich erhalte die Unterstützung, die ich brauche,  hindernisfreie und zentrale Wohnoptionen mit mehr oder weniger Betreuung und Pflege sind verfügbar. Und am Ende muss ich hoffentlich nie ins Pflegeheim!

 

Räumlich: Wie können die Wohn- Betreuungs-, Pflege und Hilfsangebote sinnvoll in unsere Ziele der räumlichen Entwicklung eingebunden werden?  Das Zentrum attraktiver gestalten und beleben, verdichten wo sinnvoll, umnutzen wo angebracht, ältere Einfamilienhausquartiere am Siedlungsrand erneuern und für Familien attraktiv machen. Vieles hängt da zusammen.

Finanziell: Alternativen zu einem weiteren teuren Pflegeheim suchen. Es wird theoretisch in 20 Jahren nötig sein – aber nur dann, wenn wir keine kreativen, flexiblen Ideen haben. Wohnoptionen mit anderen Funktionen und Nutzungen, vor allem in den Erdgeschossen, kombinieren. Bestehende Freiraumqualitäten erhalten, neue schaffen ... und vieles mehr.

Warum nicht gemeinsam mit den Nachbargemeinden?

Wir haben uns also ein Altersleitbild erarbeitet, mit dem Input interessierter Bewohnerinnen und Bewohner ausdifferenziert und erweitert. Es umfasst unsere Vision,  unterschiedliche Wohnoptionen, unterstützende Dienstleitungen, Betreuung und Pflege. Und dies im Kontext weiterer Entwicklungsziele unserer Gemeinde.

So weit so gut.  Doch die Planung der konkreten Umsetzung findet nicht im luftleeren Raum statt. In unserer Gemeinde leben rund 5000 Menschen. Wir wachsen leicht, auch dank der guten öV-Anbindung an eine mittelgrosse Stadt. Umgeben sind wir von kleineren Gemeinden, von denen es eine tolle Sicht in die Berge gibt, die aber nicht viel mehr als Wohnraum anbieten. Ein Gedankenspiel: Könnten wir unser Gärtchen verlassen und uns als regionale <Mannschaft>  verstehen, wäre Spannendes möglich. Gerade die zunehmend Hochaltrigen in den älteren und alles andere als barrierenfreien Einfamilienhäusern in diesen Gemeinden haben ein Problem. Für sie gibt es kaum lokale Unterstützungsleistungen und fast keine Umzugsoptionen im Ort, die Wege der Spitex sind lang.

Eine tolle Chance, die sich uns bietet: Wir haben noch einige Landreserven resp. Parzellen mit Umnutzungspotenzial. Wir könnten unser Zentrum beleben mit unterschiedlichen Wohnoptionen, mit Gemeinschafts- und Gemeinderäumen, Platz für Gastronomie, Gewerbe und andere Dienstleistungen im Erdgeschoss. Davon könnte die ganze Bevölkerung profitieren. In Vereinen und andern Gruppierungen finden sich hier noch aktive Menschen – vor allem auch in der Generation 60+ –, die Zeit und Lust haben, sich zu engagieren. Und last, but not least könnten wir auch den umliegenden kleinen Gemeinden Wohnraum im Alter anbieten, damit ältere Einfamilienhäuser wieder jungen Familien zugänglich gemacht werden können. Alles in allem: Eine Win-Win Situation! Anfangen müssen wir natürlich mit einer Bestandsanalyse: Was fehlt bei uns in Sachen Wohnen und Infrastruktur, heute und in der mittelfristigen Zukunft?

 

Und noch eine erleichternde Erkenntnis für diese spannende Planungsherausforderung: Das Rad ist schon erfunden! Breit abgesichertes Wissen, konstruktive Ideen, die auf bestehenden Erfahrungen in anderen Gemeinden gründen, liegen vor. Es gibt eine eine Vielzahl von realisierten Projekten, dir wir uns anschauen könnten.* Da werden auch Schlüsselaufgaben für mich und meine Kolleginnen und Kollegen aus der Gemeindepolitik definiert:

–  Sammeln und vermitteln von Informationen, Bedürfnissen, Erwartungen, und Know-

    How

–  Vernetzen und Koordinieren von Akteurinnen und Akteuren

–  Verknüpfen der Alterspolitik mit anderen Politikfeldern

Auf gute Beispiele zurückgreifen

Spezifisches Fachwissen für die Planung und Entwicklung solcher Projekte gibt es anscheinend zuhauf. Das können wir uns dazukaufen! Ein Beispiel ist das Projekt «Rössli Root» im Zentrum der Luzerner Gemeinde Root. Es umfasst drei Gebäude. Entstanden sind Mietwohnungen für generationendurchmischtes Wohnen, Arbeiten und Leben. Sie werden ergänzt durch Wohnungen mit bedarfsgerechten optionalen Dienstleistungen sowie durch zwei dezentrale Pflegewohngruppen. In einem kooperativen Planungsprozess entwickelten die Investorin, die Gemeinde und die spätere Betreiberin der Angebote ein interessantes Gesamtkonzept. Die Angebote werden durch eine Pensionskassenstiftung und fünf weitere umliegende Gemeinden getragen.

 

Und manchmal gibt es sogar Geschenke! Immer häufiger schliessen sich aktive Bürgerinnen und Bürger zusammen, um lokal ein Mehrgenerationenprojekt umzusetzen. Schlüsselpersonen sind meist jüngere Seniorinnen und Senioren zwischen 60 und 70, die ihre Lebens- und Wohnsituationen für die zweite Lebenshälfte gemeinschaftlich gestalten möchten. Eine Studie im Kanton Zürich fand rund 50 solcher Projekte: kleinere und grössere, altersmässig mehr oder weniger breit zusammengesetzt. Ihre wichtigsten Ziele sind soziale Interaktion und Integration, Alterstauglichkeit, ökologisches Wohnen und Selbstorganisation. Drei Viertel der Projekte werden genossenschaftlich betrieben, durch bestehende grössere Genossenschaften initiiert (vor allem in Städten, wo Land sonst unerschwinglich ist), oder dann schliessen sich die Interessierten selber zu einer kleinen Genossenschaft zusammen. Einige erfuhren Unterstützung von der Gemeinde, bspw. b durch einen Landkauf,  einen Baurechtsvertrags, oder mittels eines Darlehens, andere hingegen empfanden die Gemeinde im Gegenteil als Stolperstein.

Letzteres ist für mich schwer verständlich. Gemeinden sollten das oft enorme Potenzial nutzen, in Zusammenarbeit mit der Initiativgruppe und weiteren Akteuren zu erkunden, welchen Mehrwert ein solches Projekt für die Gemeinde bringen kann. Fast alle dieser Projektepläne umfassten Gemeinschaftsräume, viele sehen Werkstätten/Ateliers, Gästezimmer, Sitzungszimmer, eine Cafeteria und vieles mehr vor. Und rund die Hälfte möchte das Quartier aktiv mitprägen. In kleineren Gemeinden beleben erfolgreiche Projekte oft auch das Dorfzentrum, in dem verschiedenartige Angebote für vielfältige Altersgruppen kombiniert werden.**

 

Dazu noch ein Beispiel einer erfolgreichen Public-Private-Partnership aus dem Jahr 2016: die Mehrgenerationensiedlung Widenbüel mit Gemeindetreffpunkt in Mönchaltdorf (ZH). Für den geplanten Kauf einer zentrumsnahen gemeindeeigenen Baulandparzelle durch eine Genossenschaft machte die Gemeinde konzeptionelle Auflagen. Zur Siedlung mit vier Gebäuden und total 34 Alters- und  Familienwohnungen sollten auch zwei Gästezimmer und der Mehrzweckraum <Widenbüelträff> mit Vorplatz gehören. Der Raum soll der ganzen Gemeinde zur Verfügung stehen. Heute wird er durch die teilselbstverwaltete Hausgemeinschaft bespielt und verwaltet. Gelungen ist damit die aktive Einbindung der Siedlungsbewohnenden, und es ist ein reichhaltiges sozio-kulturelles Angebot für alle Gemeindemitglieder entstanden. 

Ich habe zudem erfahren, dass einige dieser selbst initiierten Projekte auch Vorbildcharakter haben, was ihren ökologischen Fussabdruck betrifft. Bei Neubauten zeichnen sie sich beispielsweise durch vorbildliche Energie- und Baukonzepte, Optionen für Mobility Sharing und anders mehr aus.

Eine spannende Herausforderung also, diese Geschichte. Wohnen im Alter: toll, was da alles möglich ist – und uns letztlich alle betrifft!»

 

Dr. Margrit Hugentobler Dr. Margrit Hugentobler
Soziologin und ehemalige Leiterin ETH Wohnforum – ETH CASE

Weiterführende Informationen:

* Kanton Aargau. Wohnen im Alter. Handbuch für Aargauer Gemeinden 2018.

**  Hugentobler, M & Otto, U. Gemeinschaftliche Wohnformen für die zweite Lebenshälfte – Qualitäten im Kanton Zürich. In Sinning H. (Hsg.) Altersgerecht wohnen und leben im Quartier. Fraunhofer IRB Verlag. 2017, S. 135-162. 

Link zum Projekt Rössli Root (LU): https://tinyurl.com/nn6ytmfx

Links zum Projekt Widenbüel Mönchaltdorf (ZH): https://tinyurl.com/w4aknttk

Age Report zeigt Sympathie für Mehrgenerationen-Wohnformen

Seit 2003 veröffentlicht die Age-Stiftung alle fünf Jahre einen Age Report. Die Resultate der schweizweiten Befragung machen deutlich: Der zentrale Wunsch nach einem privaten Lebens- und Rückzugsort steht seit 2003 in allen Befragungswellen unangefochten zuoberst. Die Wohnung befindet sich idealerweise in einem ruhigen Wohnumfeld, das jedoch gut an Dienstleistungen und Infrastrukturangebote angebunden ist. Insbesondere im Tessin wird auch die Nähe zu Familienangehörigen stark gewichtet.

Gemeinschaftliche Wohnformen kommen nur für eine Minderheit der älteren Bevölkerung in Betracht, wobei hausgemeinschaftliche Wohnformen, also selbstverwaltetes Wohnen, aber mit je eigenen privaten Wohnbereichen, eine höhere Akzeptanz geniessen als Wohngemeinschaften im engeren Sinne. Bei den älteren Befragten ist die Zustimmung zu gemeinschaftlichen Wohnformen tiefer als bei den jüngeren Rentnergenerationen, die mit solchen Wohnformen vertrauter sind. Der Idee, in einem Haus mit verschiedenen Generationen zu leben, kann die Mehrheit der Seniorinnen und Senioren viel abgewinnen. Diese Wohnform geniesst besonders im Tessin viel Sympathie. Befragte mit gesundheitlichen Einschränkungen möchten dagegen meistens nur mit älteren Menschen im gleichen Haus wohnen, wohl nicht zuletzt deshalb, weil der Kontakt mit jüngeren Menschen genügend psychisch-körperliche Ressourcen voraussetzt.