
Trotz knapper Ressourcen: wie kleine Gemeinden erfolgreiche Klimapolitik machen
Ein Blick auf die grossen Städte zeigt, dass sie ihre Klimastrategien mit eigenen Fachstellen und grossen Budgets vorantreiben. Zürich fördert beispielsweise Start-ups, die einen Beitrag zu den städtischen Klimaschutzzielen leisten, und Genf stellt eine Million Franken für punktuelle Projekte im Zusammenhang mit der Klimastrategie zur Verfügung. Doch kleine Gemeinden holen auf und zeigen, dass Klimaschutz auch mit weniger geht – so wie Turbenthal (ZH).
Was braucht es, damit ländliche Gemeinden auch ohne grosse Verwaltung oder Millionenbudget eine wirksame Klimapolitik betreiben können? Dieser Frage ging eine Masterarbeit an der Universität St. Gallen nach. Sie verglich die Energie- und Klimastrategien von vier Gemeinden aus dem Zürcher Tösstal (mehr dazu in der Infobox). Dabei sticht die Gemeinde Turbenthal besonders hervor, die seit Jahren eine ambitionierte Klimapolitik verfolgt. Was macht Turbenthal anders, und was lässt sich daraus lernen?
Turbenthal im Fokus
Turbenthal liegt im ländlichen Zürcher Tösstal und zählt rund 5000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die wirtschaftliche Situation der Gemeinde ist herausfordernd: Der Steuerfuss gehört mit 122 Prozent zu den höchsten im Kanton, und die Gemeinde ist auf Beiträge aus dem Finanzausgleich angewiesen. Entsprechend hat das Budget wenig Spielräume. Trotzdem verfolgt Turbenthal seit Jahren eine ambitionierte Klima- und Energiepolitik. Bereits 2012 liess sich die Gemeinde als Energiestadt zertifizieren und lancierte im selben Jahr ein eigenes Förderprogramm (wenngleich nicht im Umfang von Zürich oder Genf), mit dem sie etwa Massnahmen zur Reduktion des Wärmebedarfs von Gebäude oder des CO2-Ausstosses fördert. 2020 folgte das Energieleitbild mit dem Ziel, die CO2-Emissionen drastisch zu senken – auf drei Tonnen pro Kopf bis 2030 und auf eine Tonne bis 2050. Für die Umsetzung des Energieleitbilds ist die 2024 gegründete Fachstelle Energie und Umwelt zusammen mit der Energiekommission und den drei Arbeitsgruppen verantwortlich.
Die Vorgehensweise
Turbenthal folgt dabei einem 3-Phasen-Prozess: Am Anfang steht das Agenda-Setting, bei dem Ideen, Projekte oder Vorhaben auf die Agenda gesetzt werden (Phase 1). Auf dieser Basis werden die strategischen Ziele definiert (Phase 2), aus denen sich konkrete Massnahmen ableiten lassen (Phase 3).
Beim Agenda-Setting verfolgt die Gemeinde Turbenthal einen partizipativen Ansatz: Interessierte Turbenthalerinnen und Turbenthaler wurden zu einem offenen Workshop eingeladen, um Ideen zu sammeln, Prioritäten zu diskutieren und Vorschläge zu bewerten. Auf dieser breit abgestützten Basis leitete die Gemeinde klare Ziele und Zwischenziele ab und erarbeitete einen Massnahmenplan, den der Gemeinderat später verabschiedet hat. Für die Umsetzung wurden Fachstelle, Energiekommission und Arbeitsgruppen beauftragt, wobei drei Faktoren die Vorgehensweise von Turbenthal besonders prägen:
1. Lokales Engagement. In Turbenthal haben sich viele Freiwillige in den Arbeitsgruppen eingebracht, Projekte diskutiert und umgesetzt. Ein wohl entscheidendes Element war der offene Workshop, in dem engagierte Personen ihre Überzeugungen einbringen und sich mit Gleichgesinnten vernetzen konnten. «Die Arbeitsgruppen, die sich aus vielen Freiwilligen zusammenstellen, haben schon viel bewegt und diverse Projekte initiiert, wie das Repair Café oder die Schnellladestation», sagt Nicole Widmer, Leiterin der Fachstelle Energie und Umwelt.
2. Formalisierung. Entscheidend war, dass sich die Klimaschutzbemühungen nicht auf Einzelpersonen stützten. Stattdessen wurden sie institutionell verankert: mit einer zuständigen Fachstelle und einer Energiekommission mit klaren Kompetenzen. So bleibt die Gemeinde auch bei personellen Wechseln handlungsfähig. «Die Energie- und Umweltfachstelle war ein Meilenstein für uns, dank der wir schon viel bewegen konnten», sagt Jürg Schenkel, Gemeindeschreiber von Turbenthal.
3. Konkrete und überprüfbare Ziele. Statt vager Leitbilder definierte die Gemeinde klare Ziele und Zwischenziele. Das hilft nicht nur beim Monitoring, sondern schafft auch Legitimität gegenüber der Bevölkerung, wenn es darum geht, Massnahmen umzusetzen.
«Die Energie- und Umweltfachstelle war ein Meilenstein für uns, dank der wir schon viel bewegen konnten.»
Was neben dem Klimaschutz für Turbenthal bleibt
Neben den diversen Projekten, die Turbenthal bereits umgesetzt hat, profitiert die Gemeinde von einer gestärkten Reputation in diesem Dossier: Sie gilt bei anderen Gemeinden und beim Kanton als Vorreiterin, hat bereits mehrere Gemeinden bei Projekten beraten sowie ihre erprobte Vorgehensweise weitergegeben.
Was andere Gemeinden von Turbenthal lernen können
Die Masterarbeit und das Beispiel von Turbenthal zeigen, dass Klimaschutz in ländlichen Gemeinden erstens nur mit lokalem Engagement funktioniert, wobei sich die Frage stellt, wie man eine solche positive Dynamik erzeugen – und was noch viel wichtiger ist –, wie man sie halten kann. Zweitens lebt Klimaschutz von formalen Strukturen. Die Gemeinden sollten eine Kommission für Energie- und Klimathemen mit eigenen Entscheidungs- und Finanzkompetenzen einrichten sowie eine Klimafachstelle schaffen (auch wenn sie nur aus einer Person besteht, die sich die sich diesem Thema in einem Teilzeitpensum annimmt). Drittens legitimieren konkrete und überprüfbare Ziele spätere Massnahmen in der Umsetzung.
Mehr Informationen
Die Masterarbeit «Wie machen ländliche Gemeinde Strategie?» zeigt, wie Energie- und Klimathemen auf die politische Agenda gesetzt, Ziele formuliert und Massnahmen umgesetzt werden. Anhand von vier Gemeinden im Zürcher Tösstal wird deutlich: Ambitionierte Klimapolitik ist möglich – wenn lokales Engagement, klare Ziele und eine institutionelle Verankerung zusammenkommen.
Die Arbeit lesen: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/102563