Eines der Mitfahrbänkli in Nesslau.

Warten, mitfahren und Gutes für die Umwelt tun

10.09.2022
9 | 2022

Die Mitfahrbänkli im Toggenburg sind eine moderne Form von Autostopp. Doch wird man tatsächlich mitgenommen, wenn man sich auf ein solches Bänkli setzt? Ein Selbstversuch.

Ein älteres Ehepaar steht vor dem Holzbänkli am Bahnhof in Nesslau und mustert es aufmerksam. Die beiden kommen aus der Bodenseeregion und sind nicht zum ersten Mal in der Gegend. Von der Mitfahraktion haben sie allerdings noch nie etwas gehört. Sie bezweifeln, ob jemand anhält, wenn sie sich aufs Bänkli setzen. Warum? «Vielleicht, weil wir nicht von hier sind», vermuten sie. Zeit, das Mitfahrbänkli auszuprobieren, hat das Ehepaar nicht. Es wartet auf den Zug, der die beiden zurück Richtung Bodensee bringt und der in wenigen Minuten einfahren wird.

Ich kann die Skepsis der beiden verstehen. Es sind dieselben Gedanken, die mir auch durch den Kopf gehen, als ich mich zum nächsten Mitfahrbänkli aufmache. Es steht in der Untersteig, etwa zehn Minuten Fussmarsch vom Bahnhof Nesslau entfernt. Das erste Bänkli bei den Zuggleisen dient vor allem der Information. Das hat mir die Verantwortliche Patrizia Egloff bereits im Vorfeld gesagt. Die Plakette, die auf der Banklehne angebracht ist, zeigt die Strecke der Mitfahrgelegenheiten und die Orte, wo weitere Bänkli zu finden sind.

Patrizia Egloff ist Präsidentin des Fördervereins Energietal Toggenburg, der das Mobilitätsprojekt initiiert und gemeinsam mit der Standortgemeinde im Frühling dieses Jahres umgesetzt hat. Das Prinzip ist einfach: Wer sich auf eines der vier Mitfahrbänkli beim Tennisplatz in der Untersteig, beim Restaurant Speer, in der Dergeten oder im Dorf Stein hinsetzt, möchte gerne mitgenommen werden. Und wer Lust auf eine Mitfahrerin oder einen Mitfahrer hat, hält einfach an. Eine Einschränkung gibt es: Kinder dürfen nur in Begleitung eines Erwachsenen mitfahren.

Nachhaltige Mobilität fördern

Ich bin gespannt, ob mich jemand mitnimmt. In der Untersteig angekommen, setze ich mich auf das Bänkli, das zum Schutz vor Regen und Schnee sogar ein Dach hat. Ich warte. In den ersten fünf Minuten passiert nichts. Kein Auto fährt vorbei. Das könnte aber auch daran liegen, dass die Mittagszeit noch nicht ganz vorbei ist. Es ist ruhig, die Sonne scheint, und Motorengeräusche sind nur in der Ferne zu hören. Kurze Zeit später nimmt der Verkehr leicht zu. Doch niemand hält an.

Stattdessen unterbricht ein Mann, der mit seinem Hund seine tägliche Runde dreht, seinen Spaziergang. «Warten Sie schon lange?», fragt er. «Etwa zehn Minuten», antworte ich, und er erzählt, dass er in der Nähe wohne und schon mehrmals jemanden mitgenommen habe. «Diese Mitfahrbänkli sind wirklich eine gute Sache. Man kommt mit Menschen in Kontakt und tut noch Gutes für die Umwelt.» Ich frage ihn, ob es lange dauern kann, bis jemand anhalte. «Ach was», winkt er ab. «Es hält bestimmt bald jemand», macht er mir Mut.

Der Förderverein Energietal Toggenburg und die Gemeinde Nesslau erhoffen sich durch das Ride-and-Sharing-Projekt zum einen, die Weiler, die nicht an den öV angeschlossen sind, besser zu erschliessen. Zum anderen sollen die Bänkli einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Mobilität leisten. «Oft sind private Autos nur schlecht ausgelastet», sagt Patrizia Egloff. «Die meisten Fahrzeuge befördern nur eine Person. Mit den Mitfahrbänkli schaffen wir die Möglichkeit, diese Zahl zu erhöhen.» Ausserdem habe der motorisierte Privatverkehr generell viel Potenzial, die Energieeffizienz der Region zu steigern, ist die Präsidentin von Energietal Toggenburg überzeugt.

Die Idee der Mitfahrbänkli stammt aus der Fokusgruppe «Nachhaltige Mobilität im Toggenburg». 2021 wurden im Rahmen dieser Gruppe verschiedene Partner aus der Region zusammengeführt und Mobilitätsangebote erarbeitet, die eine CO2-Reduktion im Verkehr ermöglichen. Die Mitfahrbänkli sind eines der ersten neuen Angebote, welche die nachhaltige Mobilität fördern sollen.

Das Warten hat ein Ende

Nur wenige Minuten nachdem der Spaziergänger und sein Hund hinter der Kurve verschwunden sind, nähert sich ein Auto. Es verlangsamt seine Fahrt und hält tatsächlich vor meinem Bänkli. Die Fahrerin dreht die Scheibe herunter und fragt: «Wollen Sie mitfahren?» «Gerne», rufe ich ihr zu, packe meine Tasche und steige hinten im Auto ein. Vroni Rutz und ihre Mitfahrerin Bethli Scherrer sind auf dem Weg in den hintersten Weiler von Nesslau, in die Dergeten. Und genau dorthin möchte ich auch. Für die beiden geht es danach weiter, sie wollen ins Fürggli wandern. Die beiden Frauen gehen oft miteinander in die Berge. Zu zweit mache es einfach mehr Spass als allein, sagen sie und lachen. Vroni Rutz hat schon mehrmals jemanden in ihrem Auto mitgenommen. Selbst habe sie auch schon auf einem der Bänkli gewartet. Auch sie ist begeistert vom Projekt. «Man lernt immer neue Menschen kennen, und das gefällt mir», sagt sie.

Die Nesslauer Mitfahrbänkli sind ein Pilotversuch. Die Testphase dauert noch bis Ende Jahr, dann wird entschieden, wie es mit dem Projekt weitergeht. Patrizia Egloff ist optimistisch. Die Rückmeldungen aus der Bevölkerung seien sehr positiv. So positiv, dass die Aktion mittlerweile auch im Obertoggenburg getestet wird. Entlang der Schwendistrasse gibt es die Mitfahrbänkli an drei Standorten – in Wildhaus, in der Schwendi und in Unterwasser. Die beiden Strecken sollen aber nicht die einzigen bleiben. Es laufen bereits Vorarbeiten für weitere Mitfahrmöglichkeiten, und zwar in der Gemeinde Ebnat-Kappel.

Die Autofahrt in den Nesslauer Weiler Dergeten, wo ein weiteres Mitfahrbänkli steht, dauert rund zehn Minuten. Ich verabschiede mich von den beiden Frauen. Gerne wäre ich in der nahegelegenen Buurebeiz, die denselben Namen wie der Weiler trägt, eingekehrt. Doch die Beiz hatte an diesem Tag geschlossen. Den Weg zurück mache ich zu Fuss, mit dem Wissen, dass in Stein ein weiteres Mitfahrbänkli steht und – mit etwas Geduld – die nächste Mitfahrgelegenheit bestimmt kommt.