Die Trommler in Aquila am ersten Sonntag im Juli.

Wenn die historischen Milizen trommeln

09.08.2023
7-8 l 2023

An den Marien- und Patronatsfesten im Bleniotal überlagern sich religiöse und militärische Traditionen. Die Milizen erinnern an die Beteiligung einheimischer Söldner am Russlandfeldzug Napoleons. Die Tradition wird seit über 200 Jahren gepflegt.

Der erste Sonntag im Juli: Es ist noch ruhig an diesem Morgen im Tal, auch wenn bereits erste Ausflügler mit dem Auto, Motorrad oder Velo von Biasca in Richtung Lukmanierpass unterwegs sind. Doch plötzlich wird die Stille von einem Trommelwirbel unterbrochen. Bei Aquila (TI) lüftet sich das Geheimnis. Soldaten in historischen Uniformen marschieren in Richtung des talwärts gelegenen Dangio: Fahnenträger, Trommler, Füsiliere, angeführt von einem Kommandanten.

Die historische Miliz von Aquila besteht aus zirka 45 Männern, am Ende laufen zwei Kadetten, die gerade mal elf Jahre alt sind. Doch der Stolz an der Teilnahme ist den Youngsters anzumerken. Die kleine Militärparade wirkt auf den ersten Blick ein wenig anachronistisch, doch die Bevölkerung liebt diese Tradition. «Ich habe das selbst schon als Kind verfolgt», sagt eine Mutter am Strassenrand, die ein Baby im Arm hält. «Es ist wichtig, diese Tradition am Leben zu erhalten, auch aus Respekt für unsere Vorfahren», sagt Füsilier Edo Cima, der mit einer kleinen Ledertasche bei den Passanten – Einheimischen und Touristen – Geld für die Miliz sammelt. Er selbst ist seit 22 Jahren dabei.

Söldner aus dem Bleniotal

Der Respekt und die Erinnerung gilt all denen Soldaten aus dem Bleniotal, die 1812 für den Russlandfeldzug Napoleons als Söldner eingezogen wurden. Sie versprachen, die Heilige Jungfrau oder den Schutzheiligen ihres Dorfes jedes Jahr am Dorffest zu ehren, sollten sie lebend aus der Schlacht zurückkehren. Das Gelübde ging als Beresinaschwur in die Geschichte ein, benannt nach der blutigen Beresinaschlacht, bei der Tausende von Eidgenossen starben. In drei Dörfern des Tals hat sich diese Tradition bis heute erhalten. In Aquila ist es das Marienfest (Madonna del Rosario) am ersten Sonntag im Juli, in Ponto Valentino ebenfalls das Marienfest (Madonna del Carmelo) am dritten Sonntag im Juli, während in Leontica das Patronatsfest zu Ehren des Heiligen Johannes des Täufers jeweils am 24. Juni gefeiert wird.

«Es mischen sich an diesen Festtagen militärische und religiöse Bräuche», sagt Denys Gianora, Ehrenpräsident der napoleonischen Miliz von Leontica, der wohl bekanntesten der drei Milizen im Bleniotal. Diese Kompanie ist Mitglied der Tessiner Trachtenvereinigung sowie des europäischen Vereins Souvenir Napoléonien und tritt gelegentlich in anderen Teilen der Schweiz oder im Ausland in Erscheinung. Im Jubiläumsjahr 2012 marschierte sie durch den Petersdom und das Pantheon in Rom. «Das war sehr bewegend», erinnert sich Gianora. Die Mitglieder der Kompanie tragen historische Militäruniformen.

Denys Gianora ist Ehrenpräsident der Miliz von Leontica – er zeigt das Buch, das zum 200-Jahr-Jubiläum erschienen ist.

Die Miliz von Leontica im Einsatz. 

Die Miliz von Leontica ist die bekannteste der drei Milizen im Bleniotal.

Getrommelt wird auch in Leontica.

Tal- und Familientradition

Die Mischung aus militärischen und religiösen Elementen zeigt sich gut in der heiligen Messe, die jeweils am Sonntagvormittag gefeiert wird. In Aquila bringen die Trommler die Pfarrkirche San Vittore zum Beben, wenn sie mehrmals während der Messe ein- und ausmarschieren – etwa zur Wandlung. Am Nachmittag begleiten sie die Prozession der Madonnenstatue, die von Mitgliedern der Bruderschaft San Rosario getragen wird. Die Männer sind in Kutten gekleidet.

Pfarrer Miroslaw Janiak, der dieses Jahr die Messe in Aquila geleitet hat, mag diese Tradition: «Ich kam von Sizilien ins Bleniotal, von dort kannte ich diese Art der Prozessionen.» Allerdings: «Die Beteiligung an Messe und Prozession ist bei der Bevölkerung nicht mehr so stark wie früher», sagt der Messner. Und das erstaunt anlässlich der Säkularisierung der Gesellschaft nicht. Gleichwohl haben zumindest die Milizen keine Nachwuchsprobleme. «Für die Jungen ist es eine Frage des Stolzes, die Taltradition, die oft auch eine Familientradition ist, weiterzuführen», erzählt Denys Gianora. 

Gemäss historischen Forschungen werden die Milizen erstmals im Jahr 1812 erwähnt. Die Kompanien von Leontica und Ponto Valentino sind ab 1816 nachweisbar, diejenige von Aquila ab 1817. Nicht restlos geklärt ist bis heute, wie viele Männer aus dem Bleniotal in den Diensten Napoleons standen. Die Historiker gehen von 26 Männern aus, von denen aber lediglich drei bis sechs tatsächlich den Russlandfeldzug mitmachten.

«Die Rekruten meldeten sich hauptsächlich aus finanziellen Gründen freiwillig bei den Regimentern. Den von der französischen Regierung gebotenen Vergütungen und dem Sold fügten sich grosszügige Prämien hinzu, die von den Kantonen vorgesehen waren», heisst es im Buch «Milizie bleniese» von Davide Adamoli und Damiano Robbiani, das 2012 zum 200-Jahr-Jubiläum erschienen ist.

Auf der Liste der lebendigen Traditionen

Die Milizen gehören zu den wichtigen Traditionen des Bleniotals und festigen das lokale Identitäts- und Heimatgefühl. «Es ist nach wie vor sehr wichtig», sagt Odis Barbara De Leoni, Gemeindepräsident von Acquarossa, «die Leute putzen und schmücken das Dorf – bis heute.» Zu Acquarossa gehören die beiden Fraktionen Leontica und Ponto Valentino. In Ponto Valentino dauert das Fest im Übrigen jeweils bis zum Montagmorgen.

Die napolitanischen Milizen im Bleniotal sind in der «Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz» des Bundesamtes für Kultur enthalten, unter dem Sammelbegriff «Milizen im Tessin» gemeinsam mit dem Freiwilligenkorps von Lugano, das jedoch eine ganz andere Geschichte hat. Der Corpo Volontari Luganesi wurde 1797 gegründet, um allfällige Angriffe der neu gegründeten Cisalpinischen Republik abzuwehren, und war dazu verpflichtet, Lugano Tag und Nacht zu bewachen. 1929 wurde er anlässlich des Eidgenössischen Schützenfestes in Bellinzona wieder eingerichtet und von der Stadt Lugano als Ehrengarde anerkannt. Heute kommt das Korps von Lugano an wichtigen Feiertagen wie dem 1. August oder dem 1. Januar zum Einsatz.

Gerhard Lob
Freier Mitarbeiter