Weite Teile der Gemeinde Neuhausen werden mit Abwärme aus der Abwasserreinigungsanlage Röti (im Vordergrund), die im Kesselhaus auf dem Industriegebiet (im Hintergrund) erhitzt wird, versorgt.

Wie aus Abwasser saubere Energie wird

09.11.2022
11 | 2022

Unweit des Rheinfalls steht die Abwasserreinigungsanlage Röti. Seit 2019 wird das dort gereinigte Klärwasser zur Erzeugung von sauberer Wärme genutzt. Mittlerweile sind 144 Gebäude an den Energieverbund Neuhausen am Rheinfall angeschlossen.

Neuhausen im Kanton Schaffhausen hat eine grosse Touristenattraktion: den Rheinfall. Jedes Jahr kommen mehrere Hunderttausend Menschen aus dem In- und Ausland in die Gemeinde am Rhein, um das Naturschauspiel zu bewundern. Weniger bekannt ist, dass ein paar Meter weiter flussaufwärts eine Abwasserreinigungsanlage steht, die ARA Röti. Seit Jahren reinigt sie zuverlässig das Abwasser von Industrie und Haushalten in den umliegenden Gemeinden. Seit Herbst 2019 wird dem Abwasser Wärme entzogen und als saubere Energie ins Wärmenetz der Energieverbund Neuhausen am Rheinfall AG (EVNH) gespeist. Diese Umweltwärme wird sowohl von Privatpersonen als auch von Unternehmen und Organisationen zum ökologischen Heizen genutzt. «In den nächsten 30 Jahren können so 138 000 Tonnen CO2 eingespart werden», sagt Daniel Meyer, Geschäftsführer des EVNH. «Das ist ein grosser Schritt für die Gemeinde in der Energiewende.»

144 Gebäude angeschlossen

Die EVNH ist ein Tochterunternehmen des Elektrizitätswerks der Kanton Schaffhausen AG (EKS). Als die SIG Gemeinnützige Stiftung 2014 das sich in der Nähe der ARA Röti befindende Industrieareal umnutzen und insbesondere fossile Energieträger durch erneuerbare Wärme ersetzen wollte, war auch das EKS an Bord. Im Laufe der Projektentwicklung zeigte sich, dass ein weit grösseres Potenzial zugunsten aller möglichen Wärmebezüger realisiert werden könnte, wenn über das SIG-Areal hinausgedacht wurde. So entstand ein Gesamtenergiekonzept, das auch die Nutzung bestehender Synergien wie des bereits vorhandenen Wärmeverbunds Herbstäcker in der Gemeinde oder des Kesselhauses, der bisherigen Energiezentrale des SIG-Areals, einschloss. Dies waren die ersten Schritte auf dem Weg zum Energieverbund. Die Gemeinde unterstützte das Vorhaben bereits in einer frühen Phase, wurde Projektträgerin und in der Folge auch Aktionärin der EVNH.

«In den nächsten 30 Jahren können 138 000 Tonnen CO2 eingespart werden. Das ist ein grosser Schritt für die Gemeinde in der Energiewende.»

Daniel Meyer, Geschäftsführer Energieverbund Neuhausen am Rheinfall AG (EVNH)

Nach einer Volksabstimmung wurde der bisherige, fossil beheizte Wärmeverbund Herbstäcker in den neuen Energieverbund integriert. Der Tenor war klar: Das Wärmenetz soll nach und nach erweitert werden, damit weite Teile der Gemeinde mit erneuerbarer Abwärme versorgt werden können. Im Februar 2018 starteten die Bauarbeiten für den neuen Energieverbund, und im Herbst desselben Jahres konnten die ersten Kundinnen und Kunden mit Wärme beliefert werden. Seither wurde der Perimeter des Wärmeverbundes in der Gemeinde erweitert. Das Leitungsnetz hat mittlerweile eine Gesamtlänge von 6,4 Kilometern, und bis Ende 2021 waren 144 Gebäude ans Fernwärmenetz angeschlossen. «Noch vor diesem Winter werden wir die dritte Wärmepumpe in Betrieb nehmen können», sagt Meyer. «Damit steigt die installierte Wärmeleistung des Energieverbunds auf 16,5 Megawatt.»

Abwärme wird auf 70 Grad erhitzt

Die Hauptenergiezentrale befindet sich auf dem SIG-Areal, im sogenannten Kesselhaus. Hierher gelangt das gereinigte Abwasser aus der nahe gelegenen Kläranlage Röti über eine Wärmetauscherzentrale. Im Kesselhaus bringen aktuell zwei, bald sogar drei Wärmepumpen die «kalte» Abwärme der ARA, die bisher ungenutzt verpuffte, auf ein nutzbares Temperaturniveau von rund 70 Grad. «Die Strommenge, die wir dafür benötigen, ist verhältnismässig gering», sagt der EVNH-Geschäftsführer. Als wichtiges Nebenprodukt fällt Kälte an, die ebenfalls ins Versorgungsgebiet an Kundinnen und Kunden mit Kältebedarf geliefert wird.

«Um die Spitzenlast an den kalten Wintertagen abdecken zu können, stehen uns zwei Erdgaskessel zur Verfügung. Hier wird die Vorlauftemperatur abhängig von der Aussentemperatur bis 80 Grad angehoben.» Durch das Konzept mit mehreren redundanten Energieerzeugern könne eine zuverlässige Wärme- und Kälteversorgung gewährleistet werden. «Da ein Kessel mit einem Zweistoffbrenner ausgestattet ist, kann bei einer Gasmangellage notfalls für die Spitzenlast auch auf Heizöl umgeschaltet werden», so Meyer. «Den Kunden wird vertraglich zugesichert, dass mindestens 80 Prozent der Wärme aus erneuerbaren Ressourcen stammen.»

Die Wärme beziehungsweise die Kälte wird mit entmineralisiertem Wasser über Fernleitungsrohre zu den Kundinnen und Kunden transportiert. Dies erfolgt unterirdisch in gut isolierten Rohren, um einen Wärmeverlust auf dem Transportweg so gering wie möglich zu halten.

Grösstes Energieprojekt im Kanton

Die Gemeinde war von Anfang an begeistert von der Idee der Abwärmenutzung. «Es gibt ja fast nichts Nachhaltigeres, als aus Abwasser Energie zu gewinnen», sagt Gemeindepräsident Felix Tenger. Und es entspricht dem Konzept der Gemeinde, die seit Jahren das Label Energiestadt trägt und den Wechsel von fossilen auf erneuerbare Energien unterstützt. Seit dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise seien die Anfragen in der Gemeinde für einen Anschluss an den Wärmeverbund stark gestiegen, sagt Tenger. Deshalb steht in Kürze eine weitere Erweiterung des Perimeters an. «So können wir zusätzliche Gebäude an das Fernwärmenetz anschliessen.»

«Es gibt ja fast nichts Nachhaltigeres, als aus Abwasser Energie zu gewinnen.»

Felix Tenger, Gemeindepräsident Neuhausen am Rheinfall

Und es dürften künftig noch mehr werden. Die Gemeinde am Rheinfall wächst bevölkerungsmässig stark. Bis Ende 2024 rechnet der Gemeindepräsident mit einer Zunahme von 2000 Personen auf insgesamt 12 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Damit ist und bleibt Neuhausen am Rheinfall die zweitgrösste Gemeinde im Kanton, nach der Stadt Schaffhausen. Beim Energieprojekt hingegen liegt die Gemeinde vorne. Zurzeit gibt es nichts Vergleichbares im Kanton.

Winter-Energiespar-Initiative des Bundes

Der Bund hat Ende August die Winter-Energiespar-Initiative lanciert. Sie soll Privatpersonen, aber auch Institutionen und Unternehmen motivieren, keine Energie zu verschwenden. Als Teil der Energiespar-Alliance anerkennt der Schweizerische Gemeindeverband die drohende Strommangellage als ernstes Problem und unterstützt die Anstrengungen zur Senkung des Energieverbrauchs. Die Energiespar-Alliance vereint Organisationen, welche die Bemühungen für die Versorgungssicherheit im Winter unterstützen, indem sie freiwillig Massnahmen ergreifen, um Energie effizienter und sparsamer zu nutzen. Auch die Gemeinden sind gefordert. Dieser Artikel ist Teil einer Serie, in der die «Schweizer Gemeinde» Best-Practice-Beispiele von Gemeinden vorstellt, die Initiativen zum nachhaltigen Umgang mit Energie lanciert haben.