
Wie sich die Gemeinden ihren Platz in der Verfassung erkämpften
In der alten Bundesverfassung von 1874 war die Stellung der Gemeinden nirgends definiert. Als Bundesrat und Parlament in den 1990ern eine neue Verfassung ausarbeiteten, sahen die Gemeinden und Städte ihre Chance gekommen. Denn schon damals kritisierten die Gemeinden die oftmals mangelnde Vollzugstauglichkeit von Gesetzen und Massnahmen des Bundes. Sie verlangten eine stärkere Berücksichtigung bei der Erarbeitung von Gesetzen, die auf der kommunalen Ebene umgesetzt werden müssen.
Der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) müsse alles daran setzen, damit die Gemeinden nicht zu reinen Vollzugsorganen des Bundes und der Kantone degradiert werden, schrieb der damalige Präsident Ulrich Isch 1997 in diesem Magazin. Gerade was finanzielle Lastenübertragungen oder den Aufgabenvollzug angehe, müssten die Gemeinden eine Möglichkeit haben, zuoberst zu intervenieren.
Alte Verfassung war «gemeindeblind»
Als die Arbeiten für eine neue Verfassung konkreter wurden, war es für die beiden Kommunalverbände (SGV und Schweizerischer Städteverband, SSV) deshalb klar, dass in dieser auch die Stellung der Gemeinden und Städte geregelt werden musste. Via den damaligen Ständerat Willy Loretan (AG, eh. Vorstandsmitglied SSV) reichten sie die Motion «Föderalistische Zusammenarbeit im Bundesstaat» ein. Ziel war es, in der Bundesverfassung einen Gemeindeartikel zu platzieren, der die Gemeindeautonomie garantiert und den Bund verpflichtet, bei der Gesetzgebung die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden und Städte zu beachten. Denn momentan sei die Bundesverfassung «sozusagen gemeindeblind», so Willy Loretan. In der Folge würden immer mehr Gesetze und Verordnungen an die Gemeinden adressiert, ohne dass diese sich dazu äussern könnten.
Etwas anders sah das die Landesregierung. Der zuständige Bundesrat Arnold Koller antwortete: Die Stellung der Gemeinden werde vorab durch die Kantonsverfassungen definiert. Man werde bei der Überarbeitung des Verfassungsentwurfs aber «prüfen, ob die Ebene der Gemeinden und das Erfordernis der partnerschaftlichen Zusammenarbeit aller drei Ebenen in der Bundesverfassung sichtbar zu machen sind». Ohnehin habe er bereits eine «erhöhte Sensibilität aller Bundesbehörden gegenüber den Anliegen der Gemeinden und Städte» feststellen können. Die Motion wurde schliesslich in ein schwächeres Postulat umgewandelt, woraufhin der Bundesrat die Angelegenheit als erledigt betrachtet habe, beklagte sich Ständerat Loretan später.
Auch die Kantone waren nicht begeistert, dass neben dem Bund und ihnen selbst nun auch die Gemeinden als dritter Pfeiler des Föderalismus gestärkt werden sollten. In der Schweizer Gemeinde ist gar die Rede von «massivem Widerstand» – die Kantone hätten «nichts unterlassen», um die Bestrebungen von SGV und SSV zu vereiteln.
Anfänglich hatten sie damit offenbar auch Erfolg: In seiner Vernehmlassungsantwort auf den neuen Verfassungsentwurf kritisierte der SGV 1996, dass er die «tragende Rolle der Städte und Gemeinden als Legitimationsgrundlage des Staates» nicht sichtbar mache und Bund und Kantone nicht verpflichte, Rücksicht auf die Anliegen der Gemeinden zu nehmen. Bezeichnenderweise hatte der Bundesrat zwar Kantone, Parteien, Verbände und Bürger namentlich eingeladen, sich zum Verfassungsentwurf zu äussern – nicht aber die Gemeinden und Städte.
1700 Gemeinden und Städte fordern den «Gemeindeartikel»
Ihre Forderung nach einem «Gemeindeartikel» in Gefahr sehend, organisierten die beiden Kommunalverbände 1997 eine Pressekonferenz, an der sie den eidgenössischen Räten eine von rund 1700 Gemeinden und Städten unterzeichnete Petition überreichten. In dieser forderten sie, dass die kommunale Ebene als wichtiger Partner des Bundes in der neuen Verfassung angemessen berücksichtigt wird. Und sie schoben die Warnung nach: «Der Schweizerische Gemeindeverband und der Schweizerische Städteverband werden ihre Unterstützung für das Verfassungswerk vom Ausgang der Beratungen in den Räten abhängig machen.»
Diese Ansage zeigte offensichtlich Wirkung: Im Amtlichen Bulletin ist daraufhin mehrmals zu lesen, wie verschiedene Parlamentsmitglieder auf die Forderung der Gemeinden und Städte hinwiesen. Schliesslich zeigte sich auch die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) mit einem Gemeindeartikel einverstanden – sofern sich die neue Verfassung nicht ins Verhältnis der Kantone zu den Gemeinden einmische. In der Folge wurde der Gemeindeartikel am 30. November 1998 vom Parlament angenommen, ein Jahr später stimmten Volk und Stände der revidierten Bundesverfassung und damit dem neuen Gemeindeartikel zu. Seither schreibt Art. 50 BV vor:
Abs. 1: Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.
Abs. 2: Der Bund beachtet bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden.
Abs. 3: Er nimmt dabei Rücksicht auf die besondere Situation der Städte und der Agglomerationen sowie der Berggebiete.