Psychiaterin Esther Pauchard weiss: Jeder und jede reagiert unterschiedlich auf Krisen.

«Wir müssen uns vertraut machen mit den Krisen»

02.02.2023
1-2 l 2023

Gemeindemitarbeitende und Behördenmitglieder hatten in den vergangenen Jahren mit diversen Krisen zu kämpfen – und diese dauern an. Wie können wir mit solchen Krisen umgehen? Antworten von Psychiaterin Esther Pauchard.

Zuerst die Coronapandemie, dann der Ukrainekrieg mit Flüchtlingskrise und möglicher Strommangellage: Was machen diese Krisen mit uns, Esther Pauchard?

Momentan setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Schwierigkeiten bleiben. Wir müssen uns vertraut machen mit den Krisen. Wie wir damit umgehen, ist sehr individuell. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir werden depressiv und igeln uns ein, oder wir können uns für die Krisen rüsten. Im Sinne von: Jetzt erst recht! Wir sollten schauen, dass unsere Reaktion eher in die zweite Richtung geht, damit wir mit all den neuen Herausforderungen nicht einfach umkippen. Denn wenn wir alle umkippen wie Dominosteine, kommt es irgendwann zum Totalausfall. Wir sollten schauen, dass wir stehen bleiben.

Und wie machen wir das?

Grundsätzlich leben wir mit einer inneren Spannung zwischen dem «Istzustand» und dem «Sollzustand». Wird die Kluft dazwischen immer grösser, wächst die Spannung an. Wir können diese Spannung reduzieren, indem wir die beiden Zustände einander annähern. Am Istzustand können wir kaum etwas ändern – es ist eben, wie es ist. Wenn wir dies akzeptieren und den Sollzustand, also unsere Erwartungen, möglichst an die Realität annähern, verlieren wir weniger Energie.

Gerade Gemeinderätinnen und Gemeinderäte sind oft Mehrfachbelastungen ausgesetzt: Job, Familie, Hobbys und ein Milizamt mit viel Verantwortung. Wie können sie mit solch einer Situation umgehen?

Indem sie Grenzen setzen. Wir müssen uns überlegen, was unsere Ressourcen sind und wie wir diese sinnvoll einteilen. Wir müssen lernen zu verzichten, nicht immer das Optimum herausholen zu können – und auch, dass wir andere Leute damit vielleicht wütend machen und enttäuschen. Pausen sind ebenfalls sehr wichtig. Wir sollten ein Sensorium für uns selbst entwickeln und wie weit unsere Kräfte reichen, damit wir aufrecht und stabil bleiben.

Gemeinderätinnen und Gemeinderäte und höhere Verwaltungsangestellte sind auch Chefs. Wie können sie als Führungspersonen sicherstellen, dass ein gutes Betriebsklima herrscht und im Team niemand umkippt?

Eine gute Führungsperson kann Nein sagen; sie kennt die Grenzen ihres Teams und verteidigt diese. Übertragen auf eine Gemeindeverwaltung, die mit Personalmangel kämpft, kann das zum Beispiel heissen: Der Schalter ist nicht mehr jeden Tag offen. Dann müssen die Leute eben einen Tag auf ihre Dienstleistung warten. Klar, das ruft Unmut hervor. Aber nur so stellt die Gemeindeverwaltung sicher, dass das Angebot langfristig überhaupt noch vorhanden ist.

Zu Gast am Politforum Thun

Esther Pauchard ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und arbeitet als leitende Ärztin in einer ambulanten Suchtfachstelle in Thun; daneben ist sie Krimi-Autorin. Sie spricht neben zahlreichen anderen Referentinnen und Referenten am Politforum Thun vom 10. und 11. März. Thema des diesjährigen Politforums lautet: «Ruhe bewahren und weitermachen» – Der Krisenmodus als Dauerzustand.

Nadja Sutter
Chefredaktorin «Schweizer Gemeinde»