Vor allem Menschen mit psychischer Beeinträchtigung stehen oft vor der Herausforderung, eine geeignete Unterkunft zu finden. Das Projekt «Wohnen mit Vielfalt» will Lösungen aufzeigen.

Wohnraum für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung

18.06.2021
6 | 2021

Ein lebendiges, vielfältiges Gemeindeleben durch Begegnungen mit Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Um diese Thematik geht es im Projekt «Wohnen mit Vielfalt». Es wird vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung unterstützt.

Wie wir wohnen, prägt erheblich unsere Lebensqualität. Entlang der Lebensqualitätskonzeption von CURAVIVA Schweiz zeichnet sich eine ideale Unterkunft dadurch aus, dass sie den individuellen Bedürfnissen und dem persönlichen Lebensstil entspricht. Vielen Menschen mit Behinderung stehen nur wenig verschiedene Wohnmöglichkeiten zur Verfügung. Vor allem Menschen mit psychischer Beeinträchtigung (MmpB) stehen oft vor der Herausforderung, eine geeignete Unterkunft zu finden. Dieser Problematik widmet sich das vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (EBGB) unterstützte Projekt «Wohnen mit Vielfalt». Das Teilprojekt des Aktionsplanes UN-Behindertenrechtskonvention der drei Branchenverbände CURAVIVA Schweiz, INSOS Schweiz und vahs Schweiz zielt darauf ab, inklusive Wohnmöglichkeiten für MmpB zu fördern. Das Projekt umfasst zwei Handlungsfelder: die Wohnungssuche und das Wohnen im Sozialraum, in Gemeinden und Quartieren. In der ersten Projektphase werden gute Beispiele aus beiden Handlungsfeldern gesammelt, analysiert und aufbereitet. In der zweiten Projektphase werden MmpB, (potenzielle) Vermietende, soziale Dienstleistungserbringende und Menschen aus dem Sozialraum (Nachbarschaft) zu den beiden Handlungsfeldern befragt. Die gewonnenen Erkenntnisse werden anschliessend in einer dritten Projektphase zu einem praxistauglichen Produkt mit Handlungsinputs verarbeitet und Interessierten zur Verfügung gestellt.

Selbstständig wohnen und leben

Obwohl die Studie noch nicht abgeschlossen ist, lassen sich doch schon erste interessante Aussagen machen. Insbesondere der Wunsch, selbstständig zu leben, ist den befragten MmpB wichtig. Als zentrale Gründe gelten vor allem die Privatheit und die Rückzugsmöglichkeiten. Geschätzt wird aber auch die Möglichkeit, «zu leben, wie ich will», also beispielsweise zu essen, wann es einem passt. Viele der Befragten erzählen von ihrem Stolz darüber, (wieder) selbständig wohnen zu können. Damit dies möglich wird, braucht es angepasste Angebote von sozialen Organisationen, die eine massgeschneiderte Unterstützung sicherstellen. Diese Leistungen sind vielfältig und reichen von dezentralen, betreuten Wohnprojekten, wo bspw. ein besonderes «Wohntraining» angeboten wird, bis zur punktuellen Unterstützung von bereits selbstständig lebenden Personen, wo sich der Kontakt auf wenige Stunden pro Woche beschränkt. Je nach Situation können auch Angehörige oder freiwillig engagierte Personen einen Teil übernehmen. Aus den Gesprächen mit Fachpersonen der sozialen Organisationen, die MmpB unterstützen, wird deutlich, dass es vor allem auch darum geht, bestehende Vorurteile von Wohnraumvermietenden und der Nachbarschaft abzubauen.  

Die Rolle der Gemeinden

Auch Gemeinden können substanzielle Beiträge dazu leisten, damit Wohnen in «normalen» Wohnumgebungen vermehrt möglich wird. Gemeinwesen sind als Immobilienbesitzer an vielen Orten wichtige Akteure auf dem Wohnungsmarkt. So hat zum Beispiel «Immobilien Stadt Bern», die Dienststelle, welche die Immobilien der Stadt Bern verwaltet, seit Kurzem einen Immobilienbewirtschafter mit Sozialfokus angestellt. Ein Schwerpunkt seiner Aufgabe ist es, Wohnraum für Menschen mit Behinderungen zu schaffen, wozu neben Menschen mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen ausdrücklich auch MmpB zählen. Wichtig ist dabei vor allem auch die Zusammenarbeit mit externen Partnern und Partnerinnen, insbesondere mit Genossenschaften und sozialen Organisationen, die im Bereich Wohnen und Wohnbegleitung aktiv sind.

Verschiedene der befragten Personen – besonders auch aus dem Kreis der Wohnraumvermietung - weisen darauf hin, dass die Durchmischung von Quartieren eine Qualität darstelle. Ausgrenzung und Gettoisierung gelte es zu vermeiden. Dafür braucht es auch politisch gesetzte Rahmenbedingungen und Eckwerte. Gerade hier haben Gemeinden Handlungsspielräume, etwa bei der Ausgestaltung von Überbauungsordnungen und bei Ausschreibungen.

Praktische Beispiele

Mehrere Fallbeispiele aus der Studie zeigen auf, dass derartige soziale Wohnprojekte das Potenzial haben, ein Quartier zu bereichern und die sozialen Netze vor Ort zu stärken. Dies lässt sich am Beispiel des «Maison du Rondeau» der Genfer Stiftung Trajets illustrieren: Hier leben rund 10 MmpB in einer alten Villa. Das Ziel der Bewohnenden ist es, schrittweise wieder Fuss zu fassen und in ein selbstständiges Leben zurückzukehren. Der Garten des Hauses öffnet sich zu den Mehrfamilienhäusern der angrenzenden Siedlung. Die Tatsache des Zuzugs von Menschen mit einer Beeinträchtigung gab Anlass zur Bildung einer selbst organisierten Nachbarschaftsgruppe «Cultivons nos voisins». Die Gruppe organisiert Aktivitäten wie Apéros, Übertragung von Fussballspielen oder gemeinsame Gartenarbeiten.

Ein anderes Beispiel ist der Verein Anfora in Dornach (SO), der einen Mittagstisch betreibt, der nicht nur Arbeitsmöglichkeiten für MmpB schafft, sondern zu einem offenen Quartier- und Begegnungszentrum geworden ist. Der Zuzug von MmpB hat hier durchwegs positive Impulse ausgelöst. Die Begegnungen und persönlichen Beziehungen, die dadurch möglich wurden, leisten einen wertvollen Beitrag zu einem lebendigen Quartier- oder Dorfleben.

Mit diesen Aktivitäten werden Begegnungsmöglichkeiten geschaffen. Dadurch steigt die Lebensqualität im Quartier, und freiwillige Aktivitäten werden auf nachhaltige Art gefördert.  

Praxisbeispiele gesucht

Die Befragung dauerte bis Ende Mai 2021. Es werden weiterhin spannende, gute Praxisbeispiele gesucht, die Lösungen aufzeigen, wie MmpB selbstbestimmt und sozialraumnah wohnen können. Ziel ist es, Dienstleistungsangebote und damit verbundene Erfahrungen sichtbar und für Interessierte zugänglich zu machen. Meldungen von Personen, die gute Beispiele kennen oder derartigen Projekte betreiben oder initiieren, werden gerne von den Studienverantwortlichen der Berner Fachhochschule BFH entgegengenommen. Kontaktperson: katharina.eiler@bfh.ch.  

Matthias von Bergen
Department Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule BFH
Dozent und Projektleiter
Patrizia Weibel
CURAVIVA Schweiz
Projektleiterin «Wohnen mit Vielfalt»

Informationen: