
Wohnraum schaffen, Flächen sparen: Suffizienz konkret
Wohnraum ist vielerorts knapp. Viele Gemeinden möchten Junge behalten und Auswärtige ansiedeln, doch neues Bauland ist selten eine Lösung – zu knapp sind die Landreserven und zu gross der Widerstand. Gefragt sind Ideen, wie sich auf bestehender Siedlungsfläche mehr Wohnraum schaffen lässt. Inspiration bietet das Konzept der Suffizienz, das Ansätze für ein ressourcenschonendes, gutes Leben liefert. Wie sich suffiziente Wohnformen konkret umsetzen lassen, zeigt die Luzerner Gemeinde Entlebuch.
Eingebettet in die grünen Hügel des ersten Biosphärenreservats der Schweiz liegt Entlebuch, knapp eine halbe Stunde von Luzern entfernt. Die Gemeinde mit rund 3400 Einwohnerinnen und Einwohnern kennt die Herausforderung: Besonders junge Leute fanden zeitweise keine Wohnung und zogen weg. Zugleich fehlte ein lebendiger Dorfkern. Dank vorausschauender Planung gelang es Entlebuch jedoch, beides anzugehen: Wohnraum zu schaffen und den Dorfkern zu beleben. Über ein Jahrzehnt tätigte die Gemeinde strategische Land- und Liegenschaftskäufe im Ortskern und sicherte so ein grosses, zusammenhängendes Areal.
Verfolgt hat das Projekt Tanja Bieri, selbst aufgewachsen in Entlebuch und seit einigen Jahren Gemeinderätin. «Zu Beginn gab es einige kritische Stimmen, die Landkäufe nicht als Aufgabe der Gemeinde ansahen», erinnert sie sich, «doch ohne dieses weitsichtige Handeln wäre ein solches Vorhaben nicht möglich gewesen.» Im Laufe der Zeit gewann das Vorhaben breite Unterstützung. Nach einer umfassenden Mitwirkung der Bevölkerung führte die Gemeinde einen Wettbewerb für Investoren und Planungsbüros durch. Diese sind Inhaber der inzwischen errichteten Neubauten, die Gemeinde blieb jedoch Eigentümerin der Umgebungsflächen und des Dorfplatzes. So bestimmt diese nach wie vor, was im Dorfkern geschieht.
Vorzeigeprojekt in Entlebuch
2023 wurde das Projekt «Dorfzentrum Marktplatz» fertiggestellt. Wo früher vereinzelt alte Häuser standen, ist heute ein neuer Dorfkern mit mehreren Neubauten und einem grosszügigen Dorfplatz, der als Treffpunkt, Markt und Bühne dient. Die Gebäude beherbergen alltägliche Dienstleistungen und Wohnungen verschiedener Typen und Grössen. Die Gemeinde zeigt sich zufrieden, so Tanja Bieri: «Im Dorfzentrum finden neben jungen Leuten auch ältere Einwohnerinnen und Einwohner ein neues Zuhause. So besteht die Möglichkeit, im Dorf zu bleiben. Zugleich können sie das Haus an Familien weitergeben, und es entsteht Platz für die nächste Generation.»
«Der neue Dorfkern schafft einen gesunden Wechsel und ermöglicht es, die Leute hier im Dorf zu behalten.»
Das Projekt zeigt, wie Wohnraum flächensparend und bedarfsgerecht umorganisiert werden kann: Ältere Dorfbewohnerinnen und -bewohner, die Haus und Garten nicht mehr bewirtschaften möchten, ziehen um, und unterbelegter Wohnraum wird frei. Das Projekt reduziert den Flächen- und Ressourcenverbrauch bei gleichbleibender oder sogar höherer Lebensqualität. Dies entspricht einem Beispiel erfolgreicher Suffizienzpolitik. Suffizienz hinterfragt, was es für ein gutes Leben braucht – und lädt dazu ein, Alltagsbereiche wie Wohnen oder Mobilität so zu gestalten, dass die Umwelt entlastet wird.
Entlebuch zeigt mit einem weiteren Beispiel, wie Rahmenbedingungen ein suffizientes Leben und Wirtschaften erleichtern können: Im Dorfzentrum ist auch ein genossenschaftlich organisiertes Gesundheitszentrum untergebracht. Solche Angebote der Grundversorgung vor Ort verkürzen die Wege, was Ressourcen schont und die Lebensqualität erhöht.
Was ist Suffizienz?
Suffizienz will den Verbrauch natürlicher Ressourcen auf ein Mass senken, das ein gutes Leben erlaubt und planetare Grenzen einhält. Als Nachhaltigkeitsstrategie unterscheidet sie sich von jener der Effizienz (Ressourcen besser nutzen) und Konsistenz (Kreisläufe schliessen). Suffizienzmassnahmen streben an, weniger, ressourcenschonender, langsamer und lokaler zu konsumieren und zu produzieren.
Suffizient ohne Absicht
Neben Entlebuch haben Forschende der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) 45 weitere ländliche Gemeinden besucht und dabei zahlreiche kommunale Massnahmen identifiziert, die den Verbrauch natürlicher Ressourcen senken, die Lebensqualität verbessern und folglich als Suffizienzmassnahmen bezeichnet werden können. Befragt wurden Gemeinderätinnen und Gemeinderäte zum Stellenwert von Suffizienz, lokalen Initiativen, treibenden Kräften und Hindernissen.
Insgesamt ist Suffizienz noch selten Thema in der kommunalen Politik. Das erklärt, weshalb die identifizierten Suffizienzmassnahmen meist nicht als solche bezeichnet werden. Oft geht es schlicht darum, konkrete Probleme zu lösen, die Lebensqualität zu fördern oder die lokale Wirtschaft zu stärken – und der Ressourcenverbrauch sinkt nebenbei.
Die Beispiele aus Entlebuch und das Forschungsprojekt zeigen, dass ländliche Gemeinden durchaus Hebel besitzen, um Suffizienz lokal umzusetzen. Entscheidend sind engagierte Personen aus Politik und Bevölkerung, die frühzeitige Beteiligung der Einwohnerinnen und Einwohner, die Vorbildrolle der Behörde sowie Pilotprojekte, die Vorteile sichtbar machen. Mit Suffizienzpolitiken entstehen so für Gemeinden neue Perspektiven, die weit über das konkrete Problem der Wohnraumfrage hinausreichen.